Simultandolmetschen in Erstbewährung: Der Nürnberger Prozess 1945

Simultandolmetschen in Erstbewährung
Bild: Richard Schneider / UEPO.de

Der Nürnberger Prozess 1945 der Siegermächte gegen die Kriegsverbrecher des nationalsozialistischen Deutschlands bietet als eine kulturgeschichtlich erstmalige Leistung der Völkergemeinschaft mit einem international wirkungsvollen Anspruch auf

  • die Durchsetzung der Gerechtigkeit,
  • auf den Fortbestand von Moral und völkerrechtlicher Achtung
  • sowie auf legitimen und legalen Widerstand gegen Angriffskriege

nicht nur hinreichende Möglichkeiten für juristische, philosophische, ethische, theologische, kulturkritische, historische oder soziologische Reflexionen.

Das 2008 von Hartwig Kalverkämper und Larisa Schippel herausgegebene Werk Simultandolmetschen in Erstbewährung: Der Nürnberger Prozess 1945 bringt die dolmetscherischen Fertigkeiten, die einen zügigen und angemessen funktionierenden Prozessverlauf erst ermöglicht haben, in den Fokus des Interesses.

Sprachliche Herausforderungen, kulturelle Spezifika, technisches Können, sprachlich-emotionaler Ausgleich zwischen den Interessengruppen, Verantwortung vor den Parteien im Gericht, Sachkenntnisse und fachliche Eignung zu den Themen, Kompetenz im Simultandolmetschen waren unabdingbare Voraussetzungen dafür.

Das Simultandolmetschen steht hier mit der Bürde und Würde seiner prinzipiellen Verantwortung in der forensischen Dolmetschsituation – einem Weltgericht seiner Zeit – vor seiner Erstbewährung.

Das Buch, entstanden anlässlich eines Symposiums im November 2007 zum 120. Jahrestag der Ausbildung in translatorischen Fertigkeiten an der Berliner Universität, der heutigen Humboldt-Universität zu Berlin, bietet dazu einen umfassenden inhaltlichen Zugang.

Praktisch alle Anforderungen waren neu und unbekannt

Hartwig Kalverkämper schreibt im Vorwort:

Die Besonderheit dieser [Dolmetsch-]Leistung liegt darin, daß praktisch alle mit ihr involvierten Anforderungen neu waren, als solche (oder zumindest in dieser Qualität) noch nicht dagewesen, noch unbekannt waren, es also auch keine Tradition der Ausbildung gab:

Die Translatoren (Dolmetscher und Übersetzer) hatten neben den neuartigen sprachlichen Herausforderungen auch die kulturellen Spezifika zu bewältigen, wie sie gerade in den unterschiedlichen Rechtssystemen zum Tragen kamen, indem nämlich zwei schon im Ansatz verschiedene Rechtssysteme und ihre Lehr- und Denktraditionen – das anglo-amerikanische und das römische – hier aufeinanderprallten, was sich vor allem in den verwendeten Rechtsbegriffen und den Verstehenshintergründen offenbarte.

Das Dolmetschen war hier zudem gebunden an ein gewisses Maß an technischem Können, an Bewußtheit für die Möglichkeiten und die Störungen der Technik; Naturwissenschaft, Angewandte Technik, Geisteswissenschaft, sprachlich-kulturelles Können fanden in den Simultandolmetschanlagen eine einzigartig ingeniöse Verschmelzung, die vom Einzelnen wie von der kommunizierenden Gemeinschaft geschaffen wurde.

[…] die persönlichen Begegnungen im Gerichtssaal, jene vom Prozessverlauf erzwungenen Nähe-Situationen mit den Verbrechern, dazu das Wissen um die Uneinsichtigkeit, die Herzenskälte, die Menschenverachtung, weiter die gehörte Zynik des Leugnens, Verdrehens, Verharmlosens, Verdrängens durch Weiterreichen von Verantwortlichkeiten, des angeblichen Vergessens und natürlich auch der Attacken, Überheblichkeiten und Beschimpfungen [zehrten] an der eigenen Psyche, an der eigenen Persönlichkeit, an der eigenen Kraft weit über die beruflichen Körperstrapazen hinaus. Der Dolmetscher im emotionalen und affektegeladenen Spannungsfeld zwischen den Interessen der Prozess-Beteiligten konnte psychisch und, wie ja oft genug geschehen, auch physisch aufgerieben, zerstört werden, psychosomatische Schäden in der Berufsausübung erlangen.

Intellektuell stand er unter höchsten Qualitätsanforderungen, die es, auch wenn sie noch nicht ausgereift bedacht oder erschöpfend formuliert waren, garantieren sollten, daß hier in hehrer Verantwortung vor den Parteien der Dolmetscher nur der Sache, und zwar dem optimalen Sprachen-Transfer, verpflichtet sein soll.

Bibliografische Angaben

  • Hartwig Kalverkämper, Larisa Schippel (Hg., 2008): Simultandolmetschen in Erstbewährung: Der Nürnberger Prozess 1945. Berlin: Frank & Timme. Mit einer orientierenden Einführung von Karl Kastner und einer kommentierten fotografischen Dokumentation von Theodoros Radisoglou sowie mit einer dolmetschwissenschaftlichen Analyse von Katrin Rumprecht. 336 Seiten, 19,80 Euro. ISBN: 978-3-86596-161-7.

Frank & Timme, rs

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