Schülerpraktikum im Übersetzungsbüro: Lohnt sich das für beide Seiten?

Praktikumsplatz
Der Praktikanten-Arbeitsplatz bei Schneider Soest Fachübersetzungen.

Die wenigen Übersetzer und Übersetzungsbüros, die Praktika für den Branchennachwuchs anbieten, beschäftigen in der Regel Studierende der angewandten Sprachwissenschaft (Übersetzen und Dolmetschen) als Praktikanten. Diese bringen bereits ausreichend Sprach- und Fachkenntnisse mit, um sich bei ihrem ein- bis sechsmonatigem Eintauchen in die Berufspraxis im Büro des Praktikumsgebers nützlich machen zu können.

Immer häufiger fragen aber auch sprachbegeisterte Schüler nach einem Praktikumsplatz, denn in vielen weiterführenden Schulen ist ein Betriebspraktikum von ein oder zwei Wochen im Lehrplan vorgesehen.

Lohnt sich die Beschäftigung eines solchen Kurzzeitpraktikanten? Ist es für den Praktikumsgeber überhaupt sinnvoll, sich mit Mitarbeitern abzugeben, die oft noch nicht einmal volljährig sind? Nachfolgend ein 2010 in der Übersetzer-Mailingliste U-Forum erschienener Erfahrungsbericht von Richard Schneider:

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Ich habe bereits Studierende von Übersetzer-Studiengängen und angehende Fremdsprachenkorrespondentinnen im Rahmen eines Praktikums beschäftigt. Als mich zum ersten Mal eine Schülerin ansprach, war ich zunächst skeptisch.

Die Kandidatin besucht die Jahrgangsstufe 12 eines Gymnasiums, lernt Englisch, Französisch und Spanisch und hatte mich von sich aus kontaktiert. Das von der Schule vorgeschriebene Betriebspraktikum wird von allen 80 Schülern der Jahrgangsstufe in derselben Woche vor den Osterferien absolviert.

Zehn Tage vor Beginn des Praktikums: Vorbesprechung bei mir im Büro zum ungezwungenen Kennenlernen. Die erst im Vormonat volljährig gewordene Praktikantin macht einen erstaunlich reifen und interessierten Eindruck. Meine Befürchtungen, eine Woche lang einem naiven, albernen Früchtchen gegenübersitzen zu müssen, lösen sich nach fünf Minuten in Luft auf.

Vorstellen der Arbeitsumgebung: drei komplett ausgestattete und miteinander vernetzte Arbeitsplätze, bestehend aus jeweils zwei Schreibtischen mit Beistellcontainer und Desktop-Computern.

Für die Praktikumswoche vereinbaren wir das große Rundum-sorglos-verwöhn-Paket: Ich hole sie morgens um 8.25 Uhr mit dem Auto am Busbahnhof ab, mittags geht’s zum Essen in ein Restaurant ihrer Wahl (ich bezahle), um 15:30 Uhr fahre ich sie wieder zum Busbahnhof zurück. Eine Praktikumsvergütung wird angesichts der kurzen Dauer nicht gezahlt. (Praktikanten, die ein bis drei Monate bei mir im Büro sind, erhalten sonst 500 Euro pro Monat plus Extras.)

Abschließend übergebe ich noch das Info-Paket für Praktikanten:

  • Drei Bücher als Leihgabe: Traumberufe mit Fremdsprachen, Das Praktikum im Dolmetschen und Übersetzen, Erfolgreich selbstständig als Dolmetscher und Übersetzer.
  • Der vom BDÜ herausgegebene Honorarspiegel für Übersetzungs- und Dolmetschleistungen als Leihgabe
  • Je ein Exemplar der folgenden Fachzeitschriften als Leihgabe: MDÜ, technische kommunikation, tcworld, Produkt Global, Spektrum der Wissenschaft Dossier: „Die Evolution der Sprachen“, GEO Wissen: „Das Geheimnis der Sprache“.
  • Die DVDs „Die Flüsterer – Eine Reise in die Welt der Dolmetscher“ und „Die Dolmetscherin“ als Leihgabe.
  • Werbematerialien unseres Büros als Geschenk (Notizblock, Kugelschreiber, Brieföffner).
  • Eine hochwertige multikulturelle Jutetasche aus meiner Buchmessen-Beutesammlung als Geschenk, damit sie all das sicher nach Hause tragen kann.

Ob und wie die Praktikantin dieses Informationsangebot nutzt, bleibt ihr überlassen. Ich kontrolliere das nicht.

Zehn Tage später beginnt das Praktikum. Das Grundkonzept: Die Praktikantin soll sämtliche Abläufe in einem Übersetzungsbüro kennen lernen und nach Einarbeitung selbstständig ausführen können. Ich führe einen Vorgang wie die Angebotserstellung oder Rechnungsstellung einmal vor und lasse ihn das nächste Mal von ihr unter meiner Aufsicht ausführen. Ab dem dritten Mal macht sie das dann alleine und ich schaue am Ende zur Kontrolle noch einmal über den Text. Fragen kann sie jederzeit zwischendurch stellen, denn ich sitze am Schreibtisch gegenüber.

Montag

Einweisung in unser Dienstleistungsangebot Korrektorat/Lektorat anhand der Kontrolle eines von einem freien Mitarbeiter ausgeführten Auftrags.

Ich lasse sie für einen 24-Sprachen-Auftrag die Aufträge an freie Mitarbeiter vergeben. Bin von ihrer schnellen Auffassungsgabe, dem geübten Umgang mit der Windows-Office-Umgebung und der selbstständigen Arbeitsweise angenehm überrascht. Stelle erstaunt fest, dass sie bereits mit zehn Fingern schreibt (hat mal einen entsprechenden VHS-Kurs besucht).

Für das gemeinsame Mittagessen biete ich McDonald’s, einen Griechen, einen urigen Gasthof und ein chinesisches Großraumlokal an. Sie entscheidet sich für den Chinesen.

Nachmittags tippt sie für mich ein paar Kurztexte ab, die ich im Word-Format benötige.

Gemeinsam mehrere Rechnungen erstellt. Weihe sie in die Geheimnisse der Preisbildung ein. Sie ist angenehm überrascht, dass das umgerechnete Stundenhonorar von Freiberuflern weit über dem von Angestellten und Beamten mit vergleichbarer Qualifikation liegt. Ich erkläre ihr, warum das so sein muss.

Lasse sie zum Ausklang noch ein wenig Papierkram erledigen und einen Stapel Briefumschläge vorbereiten (Absenderetikett und Stempel mit Werbespruch anbringen).

Dienstag

Sie schließt den 24-Sprachen-Auftrag ab (Lektorat der Übersetzungen der freien Mitarbeiter, Zusammenstellung der Datei für den Kunden, Rechnungsstellung).

Lasse sie weitgehend selbstständig mehr als ein Dutzend Rechnungen erstellen, mit denen ich im Rückstand war.

Mittagspause diesmal ohne mich, denn sie trifft sich mit einer Freundin, die bei einer Werbeagentur in der Nachbarschaft ein Praktikum absolviert. (Ich erfahre, dass es dort wesentlich strenger als bei mir zugeht: Arbeitszeit 8 bis 17 Uhr; Mittagspause nur eine halbe Stunde – wer überzieht, muss die Zeit nacharbeiten.)

Nachmittags Demonstration von Translation-Memory-Systemen, zwischendurch Routinearbeiten (Erstellen von Angeboten, Auftragsvergabe an freie Mitarbeiter).

Mittwoch

Lasse sie einen Korrektorats-/Lektorats-Auftrag ausführen (Schulungsunterlagen, die in hoher Auflage vierfarbig gedruckt werden). Einweisung in die Arbeit mit PDF-Editoren (Anbringen von Korrekturhinweisen). Lese mir alles noch einmal durch und finde erwartungsgemäß noch weitere Fehler, aber für das erste Mal war die Leistung wirklich nicht schlecht.

Sie scannt eine längere Papiervorlage ein, wandelt sie in Word um und merzt Erkennungsfehler von Hand aus.

Rechnungen geschrieben.

Gemeinsames Mittagessen beim Chinesen.

Lasse sie mehrere Artikel für UEPO.de editieren/schreiben, die bei mir „auf Halde“ liegen.

Vorstellung von Online-Foren für Übersetzer (U-Forum, Partnertrans, Übersetzer-Lounge auf Xing, ProZ, Zahlungspraxis).

Donnerstag

Lektorat einer Übersetzung ins Spanische. Einweisung in die Nutzung von Papier- und Software-Wörterbüchern, Online-Terminologiequellen und Terminologie-Datenbanken.

Verfassen von Artikeln für UEPO.de.

Gemeinsames Mittagessen beim Chinesen. Frage sie dabei, ob sie sich vorstellen könne, nach dem Praktikum weiter für mich zu arbeiten. – „Ja, gerne!“ – Wir einigen uns auf einen Stundenlohn, der mehr als dem Doppelten dessen entspricht, was sie bisher bei Ferienjobs verdient hat.

Nachmittags Akquisitionsarbeiten (Online-Adressrecherche in einer Messeaussteller-Datenbank, Ermittlung der Ansprechpartner, Ausdrucken und Kuvertieren der Werbebriefe).

Freitag

Abschluss der kleinen Akquisitionsaktion, bei der immerhin auf die Schnelle gut 60 Werbebriefe zustande kamen – weit mehr als ich erwartet hatte.

Erstellen von mehreren Monatssammelrechnungen für Stammkunden.

Die Mittagspause arbeiten wir ausnahmsweise durch und machen dafür früher Schluss, da ich am Nachmittag einen Auswärtstermin habe.

Besucherecke
In der Besucherecke warten Privatkunden, bis die Praktikantin ihre Urkunden eingescannt hat.

Es war keine Minute langweilig, die Arbeit ist uns nicht ausgegangen. Eine Woche ist das absolute Minimum, um die Berufspraxis von Übersetzern darzustellen. Manches kam zu kurz, wie etwa Translation-Memory-Systeme (Trados), die Terminologieverwaltung (Multiterm) oder  das Auftragsverwaltungsprogramm (TOM). Zwar waren die Tage für mich etwas stressiger als sonst, aber das Experiment hat sich für beide Seiten gelohnt. Für mich war vor allem Folgendes von Vorteil:

  • Ich habe gerade zur rechten Zeit eine neue Aushilfe fürs Büro gewonnen, die nach dem einwöchigen Praktikum schon gut eingearbeitet ist. (Eine frühere Praktikantin, die sich in der Ausbildung zur kaufmännischen Assistentin Fremdsprachen befindet, hatte ich nach einem Praktikum ein Jahr lang auf 400-Euro-Basis weiterbeschäftigt. Diese hat jedoch nun schon zwei Monate vor ihrem Abschluss eine feste Arbeitsstelle in der Tasche, kann also nicht mehr für mich tätig sein.)
  • Ich habe in der Woche ein höheres Arbeitspensum bewältigt als wenn ich allein im Büro gesessen hätte. Das liegt aber wahrscheinlich daran, dass ich kaum noch selbst übersetze, sondern mit dem Projektmanagement mehr als genug zu tun habe und in diesem Bereich Hilfe gebrauchen kann. Bei Einzelübersetzern, die ausschließlich übersetzen und vielleicht noch Sprachunterricht erteilen, könnte es schwierig sein, das eigene Pensum mit dem Betreuungsaufwand in Einklang zu bringen.

Fazit: Bei Schülern sollte man vorab die Motivation der Bewerber prüfen

So, wie es aussieht, hatte ich mit dieser Praktikantin außerordentliches Glück. Falls wieder einmal ein Schüler sein Betriebspraktikum in unserem Büro absolvieren wollte, würde ich zunächst dessen Motivation prüfen. Bei ernsthaftem Interesse an der Übersetzerei würde ich jederzeit wieder ein Schülerpraktikum durchführen.

Es könnte aber auch sein, dass man anhand der Bewerbung oder im Vorgespräch feststellt, dass der Praktikant weder einen Bezug zu Fremdsprachen noch zum Übersetzen hat und womöglich nicht einmal am Ausformulieren von Texten im Deutschen interessiert ist, sondern nur irgendein von der Schule vorgeschriebenes Pflichtpraktikum absitzen will. In einem solchen Fall sollte man von einem Kurzpraktikum Abstand nehmen, denn ein desinteressierter Praktikant wäre eine Woche lang nur ein Störfaktor und Klotz am Bein.

[Text: Richard Schneider.]

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