Schischkins „Venushaar“ – Virtuos komponiert

Hierzulande ist er noch recht unbekannt. In seiner Heimat Russland hingegen ist er bereits zu einem Literaturstar avanciert – Michail Schischkin. Seine Werke werden in 14 Sprachen übersetzt und erscheinen in Italien, Frankreich, Polen, Schweden, Finnland, Serbien, Bulgarien, China und in den USA. In Deutschland jedoch sind seine Bücher nicht in den Regalen der Buchhandlungen zu finden, da die ersten Auflagen von Die russische Schweiz und Montreux-Missolunghi-Astapowo seit Jahren vergriffen sind und der Schweizer Verlag nicht über ausreichend finanzielle Mittel für eine Neuauflage der Bücher verfügt. Zudem kann der Grund für die zögerliche Entdeckung Schischkins im deutschsprachigen Raum in der anspruchsvollen Poetik seiner Texte liegen. Er erzählt nämlich nicht linear, sondern montiert einzelne Geschichten wie Filmausschnitte. Dies soll sich mit Das Venushaar (russ. Wenerin Wolos), das im März 2011 im deutschen DVA-Verlag erschien, allerdings ändern.

So wie das Venushaar, das zur Gattung der Frauenhaarfarne gehört, bevorzugt in südlichen, tropischen und subtropischen Ländern wächst, alte Mauern überwuchert und überall seine Sporen verbreitet, entfaltet auch der Roman Venushaar ein dichtes Geflecht von Geschichten über Menschen. Im Mittelpunkt des Buches steht ein russischer Dolmetscher, der in der Schweiz für die Asylbehörden tätig ist. In einem Interview verriet Schischkin, dass seine Tätigkeit als Dolmetscher bei ihm tatsächlich Brandwunden hinterlassen habe. Die dauernde Konfrontation mit den Schicksalen russischsprachiger Flüchtlinge zwang ihn, sich mit seiner Situation in der Schweiz auseinanderzusetzen. Schließlich verarbeitete er seine Erfahrungen und Erinnerungen in dem Roman Venushaar. Jahrelang dolmetscht die Hauptfigur des Werkes bei Vernehmungen die schrecklichen Aussagen über Gewalt, Tod und Folter der Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion. Das Buch beschäftigt sich mit den Familien sowie Schicksalen der Einwanderwilligen. Neben den wuchernden Geschichten der Asylbewerber geht es um die Vergangenheit und Gegenwart in Russland und selbstverständlich um den Ich-Erzähler. Letzterer muss fremdes Leid in eine andere Sprache übertragen. Dabei verwischen sich im Kopf des Dolmetschers die Grenzen zwischen Autobiografie, Geschichte und Fiktion und damit die Aussagen der Flüchtlinge und deren Leid, seine eigenen Erinnerungen sowie Geschichten aus vergangenen Zeiten. Der Autor thematisiert die altrömische Kriegsberichterstattung, die postsowjetische Gewalt in Russland sowie Tschetschenien, ein römisches Liebespaar und die russische Sängerin Isabella Jurjewa. Der gesamte Text ist von Gestalten und Bildern der Bibel, von antiken Mythen und Legenden sibirischer Stämme, Lektüreelementen, Zitaten sowie Anspielungen aus der Weltliteratur geprägt.

„Es ist ein komplexes, monumental angelegtes, philosophisch wie ästhetisch nach den Sternen greifendes Buch“, beschrieb der Übersetzer Andreas Tretner den Roman, den er in die deutsche Sprache übertragen hat. Die gleichnamige Bühnenadaption „Das Venushaar“ wird seit vier Jahren ununterbrochen in Moskau aufgeführt. „Schreiben ist ein Verschlingen von all dem, was einen umgibt, der Vergangenheit, der nahen Menschen, der Stadt, des Windes, des Todes“, so Michail Schischkin. „The Times Literary Supplement“ vergleicht den Schriftsteller mit russischen Klassikern: „Michail Schischkins Sprache ist wunderbar klar und prägnant. Ohne altertümlich zu klingen, erreicht sie die Qualitäten eines Tolstoi und Dostojewski ebenso wie die Tradition von Puschkin.“ Sowohl Kritiker als auch Leser stimmen darin überein, dass „dieses schöne, kraftvolle und faszinierende Buch ein Meilenstein sein wird, nicht nur in der Geschichte der russischen Literatur, sondern in der Entwicklung des russischen Selbstbewusstseins“, wie die russische Nesawissimaja Gaseta schreibt. Zu lange nämlich lebte die russische Literatur von der Vergangenheit und verpasste auf diese Weise den Anschluss an die Weltliteratur.
Eine Leseprobe finden Sie hier.

Nachfolgend einige Pressestimmen zu Schischkin und seinem Buch Venushaar:

  • „Michail Schischkin erweist sich als einer der originellsten Autoren der russischen Literaturszene – zumal er es verstanden hat, abseits aller Moden eine eigene Schreibweise und eine eigene Literaturkonzepzion zu etablieren.“ Neue Zürcher Zeitung
  • „Virtuos komponiert.“ Schweizer Monatshefte
  • „Michail Schischkin ist ein genialer Schriftsteller. Zweifellos ein zukünftiger Klassiker!“ Globalus
  • „‚Venushaar‘ ist einer der wichtigsten Romane der russischen Gegenwartsliteratur. Literarisches Stilempfinden, psychologischer Scharfblick und kompositorisches Gefühl bilden gemeinsam die Grundlage für einen meisterhaften Text, der das Romangenre neu definiert. Michail Schischkin verfügt über ein feines Gehör für die Selbsttäuschungen seiner Protagonisten (inklusive der Erzählerfigur) und verbindet ihre Geschichten zu einer raffinierten Konstruktion, bei der auch ein Vladimir Nabokov vor Neid erblassen könnte.“ Neue Zürcher Zeitung
  • „Venushaar – vielschichtig, vieldeutig, metaphorisch, mythologisch, metaphysisch, erstreckt er sich vom Bürgerkrieg bis zum Büro der Schweizer Einwanderungsbehörde, von Artaxerxes bis zur christlichen Esoterik, vom Bewusstseinsstrom bis zum Poesiealbum.“ Exspert

Einen Beitrag im Schweizer Fernsehen über Michail Schischkin und sein Werk finden Sie hier.

Zur Person
Michail Schischkin (Bild rechts) wurde 1961 in Moskau geboren, studierte Linguistik und unterrichte in Russland anschließend einige Jahre Deutsch. Im Jahre 1955 zog er wegen der Geburt seines Sohnes nach Zürich. Dort arbeitete er als Russischlehrer und Dolmetscher für die Einwanderungsbehörde. Schischkin sieht sich aber nicht als Auswanderer an und veröffentlicht seine Bücher nach wie vor zuerst in Russland. Für Die Eroberung Ismails (Wsjatie Ismaila), einen seiner ersten Romane, erhielt er 2000 einen der wichtigsten russischen Literaturpreise, den russischen Booker-Preis. Für sein Buch Venushaar wurde er mit zahlreichen Preisen, u.a. im Jahr 2005 mit dem angesehenen Petersburger Preis Nationaler Bestseller in Russland, ausgezeichnet.

Zur Biografie des Übersetzers
Andreas Tretner ist 1959 in Gera geboren und arbeitete als Übersetzer u.a. von Boris Akunin, Vladimir Sorokin, Viktor Pelewin und Josef Skvorecký.

Zum Buch
Michail Schischkin: Venushaar. Originaltitel: Venerin volos. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. 560 Seiten. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. ISBN: 978-3-421-04441-9. 24,99 Euro.

[Text: Jessica Antosik. Quelle: randomhouse.de; maiak.info; dradio.de; limmatverlag.ch. Bilder: Michail Schischkin, maiak.info.; buecher.de.]