Die Muttersprache prägt das Denken

Wissenschaftler gehen nach vielen Jahren Forschung davon aus, dass die Eigenarten der Sprache, das bedeutet die Grammatik und der Wortschatz, unser Denken beeinflussen. In einem Versuch haben sie festgestellt, dass sich die Muttersprache auf die Erinnerungen der Probanden auswirkt und die Sprache somit Einfluss darauf hat, wie wir denken, etwas wahrnehmen und wie wir uns an etwas erinnern. Englische und deutsche Muttersprachler tendieren der Studie zufolge eher dazu, Geschehnisse mit einem handelnden Akteur zu beschreiben. Japanische und spanische Sprecher hingegen setzen einen anderen Schwerpunkt. So konnten sich die japanischen und spanischen Muttersprachler schlechter als beispielsweise die amerikanischen Teilnehmer an die Person erinnern, die einen Unfall verursacht hatte.

Ein weiterer Grund für die fehlenden Informationen vonseiten der Japaner und Spanier kann in kulturellen Unterschieden liegen. So ist es in diesen Kulturkreisen vielleicht üblich, nur bei 100%-iger Sicherheit Schuldzuweisungen auszusprechen.

Die Zuni, ein Indianerstamm aus Nordamerika, unterscheiden nicht zwischen Gelb und Orange. Sie gebrauchen für diese Farben nur ein Wort. In einem Versuch konnten sich die Zuni schlechter als US-Amerikaner daran erinnern, ob das zuvor gesehene Objekt gelb oder orange war.

Das Wahrnehmen, Denken und Urteilen von Menschen unterliegt subtilen Voreinstellungen, die linguistisch bedingt sind. Damit wird Noam Chomskys These verworfen, nach der alle Menschen – unabhängig von ihrer Muttersprache  – durch die gleiche universelle Denkstruktur vereint seien.

Nun stellt sich die Frage, wie bilingual aufgewachsene Personen denken. Im Jahr 2010 untersuchte die Ben-Gurion University in Israel arabischstämmige Israelis. Es wurde getestet, ob sie implizite Vorurteile gegenüber jüdischen oder arabischen Namen hatten. Dies hing jedoch davon ab, in welcher Sprache die Tests durchgeführt wurden. Das Ergebnis war Folgendes: Auf Hebräisch waren negative Einstellungen gegenüber jüdischen Namen selten, wohingegen arabische Namen im Arabischen besser abschnitten.

Wer eine Fremdsprache erlernt, könnte sich laut einer Studie der Polytechnischen Universität Hongkong durch andere Persönlichkeitseigenschaften kennzeichnen. Bei einer Befragung sagten chinesische Muttersprachler, sie seien extrovertierter und durchsetzungsfähiger, wenn sie Englisch sprachen. Dies ist auf die kulturellen Normen zurückzuführen, die beim Lernen einer Sprache erworben und angewandt werden. „Wenn wir eine neue Sprache lernen, machen wir uns also tatsächlich auch eine neue Denkweise zu eigen.“, erklärt Lera Boroditsky von der Stanford University.

Viele Sprachen, wie auch das Deutsche, weisen unbelebten Objekten ein Geschlecht zu, auch wenn dies unsinnig ist. Denn warum sollte ein Fußball männlich und eine Regenrinne weiblich sein? Dies hat geschlechtsspezifische Assoziationen zur Folge. Je nachdem, ob ein Wort männlich oder weiblich ist, verbinden die jeweiligen Muttersprachler mit diesem eher Stärke oder Grazilität. Dies ist zum Beispiel bei dem Wort „Brücke“ der Fall. Im Deutschen hat das Wort einen weiblichen Artikel: die Brücke. Im Spanischen dagegen sind Brücken maskulin: el puente. Deutsche assoziieren mit der Brücke Adjektive wie schlank, elegant, zierlich, friedlich und hübsch. Spanier jedoch beschreiben Brücken als stark, gefährlich und groß. Werden Franzosen gebeten, sich vorzustellen, eine Gabel habe eine Stimme und könne sprechen, dann beschreiben sie die Stimme als hoch. Das französische Wort für Gabel lautet la fourchette (weiblich). Die Spanier hingegen weisen der Gabel, el tenedor (männlich), eine tiefe Stimme zu.

Durch den grammatischen Artikel werden mit einem bestimmten Objekt tief verwurzelte Konzepte von Männlichkeit oder Weiblichkeit verbunden. Deutsche Maler stellen beispielsweise den Tod als Mann dar, für einen russischen Maler ist er jedoch oftmals eine Frau. „Wenn Amerikaner das grammatische Geschlecht eines Objekts in einer Fremdsprache erlernen, beeinflusst das anschließend ihre mentale Repräsentation dieses Gegenstands auf die gleiche Weise wie bei den Muttersprachlern“, so Boroditsky.

Zusammenfassend und abschließend kann man sagen, dass die Sprachen die Welt auf unterschiedlichste Art und Weise beschreiben. Wie Ludwig Wittgenstein erklärte: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Dennoch ist unser Gehirn flexibel und wir sind in der Lage, Begriffe und die Bedeutungsnuancen anderer Sprachen zu lernen, unseren Horizont zu erweitern und damit neue Sichtweisen kennen zu lernen.

[Text: Jessica Antosik. Quelle: Gehirn&Geist, Nr.7-8/2011, S. 14–19. Bild: JaGa (Wikipedia).]