Grundschrift statt Schreibschrift

Wer schreibt im digitalen Zeitalter, d.h. in Zeiten von Tastaturen, Handys und Touchscreens, noch mit der Hand? Die Handschrift stirbt regelrecht aus, was das Ende der Sauklaue bedeutet und ein großer Verlust ist. Schließlich verrät die Handschrift Vieles über die Arbeitsweise und Persönlichkeit ihres Schreibers.


Schulheft von 1929 mit Schreibübungen in deutscher Sütterlinschrift

Nun soll in einigen Bundesländern ab dem kommenden Schuljahr die Schreibschrift nicht mehr verpflichtend gelehrt werden. An ihre Stelle soll die sogenannte Grundschrift treten. Dies schlägt der Grundschulverband vor. Die Kinder bräuchten zu lange, um die Schönschrift zu lernen. Hintergrund seien zudem Klagen über zunehmend unleserliche Handschriften der Kinder. Laut Grundschullehrerverband kommen rund ein Drittel der Jungs und etwa zehn Prozent der Mädchen nach vier Jahren Grundschule ohne wirklich fundierte Kenntnisse im Lesen und Schreiben heraus. Da sie des Weiteren im Alltag fast ausschließlich Druckbuchstaben sehen, sollten die Kinder eine Grundschrift erlernen. „Grundschrift – damit Kinder besser schreiben lernen“ lautet die Devise.

Ulrich Hecker, Fachreferent für Öffentlichkeitsarbeit im Grundschulverband, sagt:

Die Kinder lernen bereits in der 1. Klasse Druckschrift, müssen dann in der 2. Klasse eine neue Schrift lernen, obwohl sie schon längst in Druckbuchstaben schreiben können. Die Schriftentwicklung wird unterbrochen. Durch die Grundschrift können die Kinder schneller und vor allem lesbarer schreiben.

In einer Pressemitteilung erklärt der Grundschulverband Folgendes:

Zurzeit gibt es an deutschen Grundschulen drei normierte verbundene Ausgangsschriften:
die Lateinische (LA), die Vereinfachte (VA) und die Schul-Ausgangsschrift (SAS). Davor gab es bis 1953 die Deutsche Normalschrift, bis 1941 die Sütterlin-Frakturschrift. Bei dieser Vielfalt der Schriftformen kann von dem einen „Kulturgut“ ernsthaft keine Rede sein. Das zu bewahrende Kulturgut ist die überlieferte Lateinschrift: die großen und kleinen Druckbuchstaben, die „Gemischt-Antiqua“ genannt wird.

Mit der Grundschrift werden alle Buchstaben so geübt, dass sie „mit Schwung“, locker und flüssig geschrieben werden. Das geht mit einer kleinen, aber bedeutsamen und hilfreichen Wendung: Bei Kleinbuchstaben, die mit einem Abstrich enden (z.B. a, d, g, m), wird der Abstrich unten mit einem Wendebogen versehen. Das bringt Bewegung in die Schrift: Die Schreibweise wird dynamisch und Verbindungen zum folgenden Buchstaben im Wort werden gut möglich.

Einige Schriftbeispiele des Grundschulverbands können Sie hier als PDF-Datei abrufen.

Die Meinungen zur möglichen Abschaffung der Schreibschrift gehen jedoch weit auseinander. Die Verfügbarkeit über eine flüssige, gute, schnelle Schreibschrift sei unentbehrlich, eine kulturelle Basiskompetenz, auf die man einfach nicht verzichten könne. So denken die Grundschrift-Gegner. Auch Dr. Hans Kaufmann, Pädagoge und Regionalleiter des Vereins Deutsche Sprache in Hamburg, ist der Grundschrift gegenüber skeptisch eingestellt:

Schreiben ist eine Kulturtechnik, um Gedanken schnell niederzulegen. Die Schreibschrift schult die Feinmotorik, schafft Ästhetik. Mit dem scheinbar vereinfachten Schreiben vereinfacht sich auch das Denken. Ich würde es bedauern, wenn ein Stück unserer Schriftkultur verloren geht.

Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, ist folgender Meinung:

Die Lesbarkeit wird sich nicht verbessern, sondern deutlich verschlechtern, weil jeder Schüler die Buchstaben so verbindet, wie es ihm Spaß macht. Auch das Schreibtempo wird sich deutlich verlangsamen. Dazu strengt Druckschrift die Kinder viel mehr an, weil sie für jeden Buchstaben den Stift kurz anheben müssen. Pädagogisch ist das eine Bankrotterklärung, ein Irrweg.

Kritiker warnen ferner davor, die Leistungsanforderungen immer stärker zu senken, weil dadurch das Bildungsniveau nur noch mehr abfalle. Michael Gomolzig, Rektor der Geradstettener Grund- und Hauptschule, äußert sich dazu wie folgt:

Wir sollten die Schüler optimal fördern und nicht die Hürden so senken, dass das Ziel an den Schwächeren ausgerichtet wird. Wir sollten den Schwächelnden über die Hürden helfen. […] In der dritten Klasse schreiben Mädchen so gerne schön, dass sie auf jedes i ein Herzchen statt eines Punktes malen.

Hamburgs Schulsenator, Ties Rabe (SPD), weist die Kritik an der Abschaffung des verpflichtenden Lernens der Schreibschrift zurück:

Wenn ich mir angucke, wie andere Menschen jetzt schreiben als Erwachsene, dann haben wir völlig andere Handschriften als die ursprünglich in der Schule gelehrte Schrift. Und ich kann nicht feststellen, dass dadurch jetzt die Kultur verloren gegangen ist. Dieses Argument trifft wirklich nicht zu.

Die Hamburger Grundschulen, an denen Schulsenator Rabe die Grundschrift einführen wollte, haben sich allerdings für die klassische „Schwungschrift“ ausgesprochen, berichtet die Bild Hamburg unter Berufung auf die Schulbehörde. In Baden-Württemberg hingegen hätten 16 Grundschulen erklärt, ab dem kommenden Schuljahr an dem Versuch teilzunehmen und die einfachere Schreibschrift zu erproben.

Natürlich ist diese Diskussion letztlich ein deutsches Luxus-Problem, da es nicht überall auf der Welt selbstverständlich ist, dass Kinder Schreiben und Lesen (lernen) können. In Indien müssen die Kinder außerdem sowohl die englische Grundschrift als auch Hindi lernen.

[Text: Jessica Antosik. Quelle: grundschulverband.de, 18.07.2011; dradio.de, 03.08.2011; wissen.dradio.de, 10.05.2011/12.08.2011; bild.de, 28.06./20.08.2011; stuttgarter-zeitung.de, 23.08.2011; Bild: Andreas Praefcke (Wikipedia).]