Mit Fingerspitzengefühl die Welt sehen

Die Weltgesundheitsorganisation WHO veröffentlichte 2004 einen Artikel mit Zahlen zu Erblindungen und Sehbehinderungen in den verschiedenen Regionen der Erde. Neben Zahlen zu anderen Regionen enthält dieser Report auch Daten zu Europa. Dabei bezieht er sich auf Erhebungen in Dänemark, Finnland, Großbritannien, Island, Irland, Italien, Niederlande. Laut WHO hat sich in den genannten Ländern von 1990 bis 2002 die Zahl der Sehbehinderten um 80 Prozent gesteigert. Hintergrund ist das Phänomen „Alternde Gesellschaft“ verbunden mit einer steigenden Lebenserwartung. Zudem ermittelte die WHO einen nur moderaten Anstieg der Blinden um 9 Prozent. Prof. Dr. Bernd Bertram hat die WHO-Zahlen ausgewertet und Rückschlüsse auf die Situation in Deutschland gezogen. Demnach lebten in Deutschland im Jahre 2002 164.000 Blinde und 1.066.000 Sehbehinderte.

Das Stichwort „Barrierefreiheit“ spielt in diesem Zusammenhang eine ganz wichtige Rolle. Wikipedia definiert den Begriff wie folgt:

Barrierefreiheit bedeutet, dass Gegenstände, Medien und Einrichtungen so gestaltet werden, dass sie von jedem Menschen unabhängig von einer eventuell vorhandenen Behinderung uneingeschränkt benutzt werden können. […] Mitunter wird statt „Barrierefreiheit“ auch der Begriff Zugänglichkeit (abgeleitet von englisch accessibility) verwendet. Im Zusammenhang mit dem Internet verzichtet man häufig ganz auf eine Übersetzung und nutzt das englische Wort. Häufig gebraucht wird auch immer noch der inzwischen aus der Mode gekommene Begriff behindertengerecht, obgleich Barrierefreiheit die Zugänglichkeit und Benutzbarkeit für alle Menschen bedeutet – nicht nur für die mit Behinderungen.

Das deutsche Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen legt in seinem § 4 fest:

Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.

Die Blindenschrift war ein Meilenstein für die Selbständigkeit und das Selbstbewusstsein blinder sowie sehbehinderter Menschen. Für sie ist es vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks. Über Jahrhunderte hatten sie keinen eigenen Zugang zur Literatur. Der Weg zu höherer Bildung oder einem Beruf war ihnen aus diesem Grund meistens versperrt. Bücher mussten ihnen vorgelesen, Karten und Bilder beschrieben werden.

Die Blindenschrift ermöglicht es, Blinden zu lesen. Das Lesen erfolgt dabei mit dem Tastsinn der Finger. Es existieren verschiedene Schriftsysteme wie zum Beispiel das 1845 von Dr. William Moon entwickelte Moonalphabet. Die (Relief-)Schrift besteht aus Zeichen in Form geometrischer Symbole. Für Personen, die erst im Laufe ihres Lebens erblinden, ist sie besonders leicht zu lernen, weil zahlreiche Symbole den Buchstaben des Alphabets ähneln.

Die heute am weitesten verbreitete und auch im Computerzeitalter keineswegs unmoderne Blindenschrift ist die Brailleschrift. Dabei handelt es sich um eine geniale und faszinierende Erfindung des Franzosen Louis Braille aus dem Jahre 1825. Im Alter von vier Jahren verlor er das Augenlicht. Doch der wissbegierige Junge wollte sich nicht damit abfinden, Literatur nur durch Vorlesen erleben zu können. Mit 16 hatte Braille seine Blindenschrift fertig gestellt und gab damit den Blinden endlich ein Alphabet an die Hand, das leicht zu lesen und zu schreiben ist. Seitdem gilt er als der Gutenberg der Blinden. 1850 wurde die Brailleschrift offiziell für den Unterricht an französischen Blindenschulen eingeführt. In Deutschland erfolgte die offizielle Einführung im Jahr 1879.

Für fast jede oft geschriebene Sprache auf der ganzen Welt gibt es auch eine Brailleschrift, wobei alle Sprachen von links nach rechts gelesen werden, unabhängig davon wie die jeweilige Schrift der Sehenden läuft. Die Brailleschrift verwendet Punktmuster, die von hinten in das Papier gepresst werden, sodass sie als Erhöhung mit den Fingerspitzen abgegriffen werden können. Louis Braille reichten sechs Punkte aus, um die tastbare Blinden- bzw. Punktschrift zu entwickeln. Sechs Punkte, die in zwei senkrechten Reihen zu je 3 Punkten nebeneinander angeordnet und so optimal ertastbar sind, bilden die Grundform. Bei sechs Punkten ergeben sich 64 Kombinationsmöglichkeiten. Die Punkte einer Braillezelle werden absteigend in der linken Spalte von eins bis drei und in der rechten Spalte von vier bis sechs nummeriert. Die Buchstaben der Blindenschrift bestehen aus einer Kombination dieser Punkte: Steht Punkt 1 alleine, handelt es sich um ein „a“, Punkt 1 + 2 ergeben ein „b“, Punkt 1 + 4 ein „c“ usw. Im 6-Punkt-Braille gibt es keinen Unterschied zwischen Groß- und Kleinschreibung. Der Platzbedarf der Punktschrift ist enorm, denn die Zeichen sind größer als in der Schwarzschrift, die Schrift der Sehenden. Zudem ist für die Punktschrift dickeres Papier notwendig. Punktschriftbücher haben häufig das Format 27 x 34 cm. Allein der Duden in Punktschrift umfasst 18 Bände. „Überträgt man die Druckschrift für Sehende in Blindenschrift, so wachsen die Bücher um ein Drittel“, erklärt Dr. Thomas Kahlisch, Direktor der Deutschen Zentralbücherei für Blinde (DZB). Kahlisch erblindete im Alter von 14 Jahren an einer Netzhautablösung.

Von den rund 160.000 komplett erblindeten Menschen in Deutschland können nur etwa 20.000 die Blindenschrift lesen. „Sehbehinderungen oder Blindheit treten oft erst im Alter auf“, begründet die Bibliothekarin Susanne Siems diese Zahlen. „Für viele ist es dann schwierig, die Brailleschrift so gut zu lernen, dass sie auch fließend lesen können.“ Die Schrift an sich sei nicht schwierig, so Bianca Weigert. Sie bringt Erwachsenen ehrenamtlich die Brailleschrift bei. „Etwas komplizierter ist jedoch, erstmal das nötige Tastgefühl in den Fingerspitzen zu entwickeln, besonders für Ältere.“ Insbesondere die jüngere Generation sei heutzutage aufgrund der Hörbücher und technischen Entwicklung weniger bereit, die Brailleschrift zu lernen. Dennoch nimmt die Verbreitung der Punktschrift immer mehr zu. So müssen zum Beispiel seit 2004 alle Pharmaverpackungen mit Blindenschrift versehen sein.

Ende September 2011 richtete die älteste öffentliche Blindenbibliothek Deutschlands, die 1894 gegründete Deutsche Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig (DZB), im Auftrag der Weltblindenunion den Kongress „Braille 21“ aus und widmete sich der Brailleschrift. „Den Blindenverbänden aus aller Welt geht es um eine stärkere Verbreitung von Brailleschrift im Alltag, um bessere Zusammenarbeit und wie wir als Bibliotheken Internet, Handys oder Smartphones zur Verbreitung von Literatur nutzen können“, fasst Dr. Thomas Kahlisch einige der Ziele zusammen. Der 45-Jährige selbst ist unzufrieden mit der Auswahl an Braillebüchern in Deutschland: Lediglich rund zwei Prozent der Literatur sei auch in Punktschrift verfügbar. „Verlage kümmern sich nicht um dieses Feld, da die kleinen Auflagen für sie wirtschaftlich kaum interessant sind“, berichtet der studierte Informatiker. Die Herstellung eines Blindenschriftbuches ist aufwendig – bis zum Erscheinen dauert es meist ein Jahr.

In der Leipziger DZB übertragen 15 Mitarbeiter Literatur aus der „Schwarzschrift“ in die Punktzeichen. Circa 150 Bücher, auch Atlanten, Kalender oder Zeitschriften, übersetzen sie in einem Jahr. Doch beispielsweise bei Tabellen oder Fragen mit mehreren Antworten kommen oftmals Schwierigkeiten auf. Eine Blindenschriftüberträgerin erklärt ihr Vorgehen in diesen Situationen folgendermaßen: „Das sind Strukturen, die man so nicht in Brailleschrift umsetzen kann. Wir müssen dies in anderer Form aufbereiten, etwa indem wir die Sachverhalte umschreiben.“

[Text: Jessica Antosik. Quelle: charivari.de, 22.09.2011; faz.net, 19.10.2009; cms.augeninfo.de, 12/2005; dbsv.org; wikipedia.de. Bilder: www.flickr.com/photos/fotoblasete/, antonioxalonso; Immanuel Giel (Wikipedia).]