Martin Zierold: „Schmatz ich eigentlich beim Essen?“

Martin Zierold steckt sich eine Pommes Frites in den Mund und fragt: „Schmatz ich eigentlich beim Essen? Das müsst ihr mir sagen, ich merke es nicht.“ Zierold ist Deutschlands erster Abgeordneter, der nicht hören kann. Seit dem Herbst 2011 sitzt er für die Grünen im Bezirksparlament von Berlin-Mitte. Dies ist eine große Herausforderung für ihn, seine Kollegen und die Gesellschaft. Stets und ständig wird von einem Dolmetscher begleitet, der die Worte der anderen in seine Muttersprache, die Deutsche Gebärdensprache, und umgekehrt überträgt. Zehn verschiedene Dolmetscher arbeiten für den 26-Jährigen, drei Männer und sieben Frauen. Dass ihm zumeist Frauen eine Stimme geben, stört ihn nicht und ist längst zu einem Teil von ihm geworden. Für ihn sind Dolmetscher Werkzeuge ohne Geschlecht, Dienstleister, die nicht von seiner Person ablenken sollen. Er möchte auch nicht, dass ihre Namen veröffentlicht werden. Dies würde ihn kleiner machen.

Zierold wurde im Jahre 1985 als gehörloses Kind gehörloser Eltern im Erzgebirge geboren. Von klein auf hat er also die Sprache der fliegenden Hände gelernt. „Meine Mutter hat sich sogar gefreut, dass ich auch taub bin, so bin ich in ihre Welt der Kommunikation hineingewachsen“, so Zierold. Den Begriff „gehörlos“ mag er eigentlich nicht. „Das klingt so nach Defizit“. Das Wort „Taubstumm“ sei aber noch schlimmer. „Ich bin taub, aber nicht stumm und bemitleidenswert schon gar nicht.“ „Wir sind nicht stumm, und unsere Sprache heißt Gebärdensprache“, sagt er in einem Interview mit der taz. Er hätte selber gern Abitur gemacht, hatte jedoch nicht die Möglichkeit dazu, da es in Deutschland kaum Schulen gibt, die Taube bilingual, d. h. in Laut- und Gebärdensprache, unterrichten. Dies will er unbedingt ändern. Barrierefreie Bildung steht ganz oben auf seiner politischen Agenda. „Ich will erreichen, dass auch Taube Abitur in ihrer Sprache machen können, so wie jeder andere auch.“

Der 26-jährige Politiker hat große Pläne. Er zielt darauf ab, Berlin in den kommenden fünf Jahren Mitte zu einem Vorbild für Inklusion zu machen. Dies bedeutet also eine echte Teilhabe an der Gesellschaft von Menschen mit einer Behinderung. Er will die Gebärdensprache, das „visuelle Deutsch“ wie er es nennt, und Probleme sowie Anliegen der Hörbehinderten einer größeren Öffentlichkeit bekannter machen. Im Zuge dessen soll die Live-Übertragung von Sitzungen der Bezirksverordneten im Internet mit Übersetzung in Gebärden durchgesetzt werden. „Ich will eine Nadel in diese Blase piksen, in der sich das Rathaus befindet.“ Er beabsichtigt die getrennten Welten von Hörenden und Nicht-Hörenden zusammenzuführen. Nicht weniger als einen Paradigmenwechsel strebe er an, sagt er. Des Weiteren möchte er andere Behinderte dazu ermutigen, sich für ihre Rechte einzusetzen. Die Tatsache, dass sie ihre Rechte nicht im vollen Maße wahrnehmen, liegt seiner Ansicht nach unter anderem an der Bildung. „Den Meisten fehlt einfach das Selbstbewusstsein. Ihnen muss in der Schule vermittelt werden, dass sie auf ihre Situation aufmerksam machen müssen und sie verändern können, wenn sie das wollen.“ Vor dem Wahlkampf im September 2011 hat er das Wahlprogramm der Grünen in die Gebärdensprache übersetzt, weil Taube Informationen besser aufnehmen können, wenn sie sie in Gebärden sehen, als wenn sie sie lesen. „Für Gehörlose ist es nicht leicht, die deutsche Schriftsprache zu lernen. Denn sie ist ganz anders aufgebaut als die Gebärdensprache. Wir brauchen zum Beispiel keine Präpositionen: Ob etwas „auf“, „unter“ oder „über“ ist, das zeigen wir durch die Richtung der Gebärde. Auch ich habe die Schriftsprache sehr spät gelernt, weil bei mir zu Hause nur über Gebärdensprache kommuniziert wurde“, erklärt er der taz.

Zudem sagte er in dem Gespräch Folgendes über die Gebärdensprache: „Wir benutzen eine eigene Sprache mit eigener Grammatik, und deshalb hat sich eine Taubengemeinschaft mit eigener Kultur entwickelt. Eine meiner Visionen wäre es, dass die Gebärdensprache neben Deutsch zur Amtssprache wird.“ Dies ist beispielsweise in Neuseeland der Fall. Seit 2006 gehört die Neuseeländische Gebärdensprache (NZSL) neben Englisch und Māori zur offiziellen Amtssprache Neuseelands. Seit Februar 2005 ist im Schweizer Kanton Zürich verfassungsmäßig anerkannt, dass die Gebärdensprache Teil der Sprachenfreiheit ist. Das österreichische Parlament nahm im Juli 2005 die Gebärdensprache als anerkannte Minderheitensprache in die Bundesverfassung (Art. 8, Abs. 3) auf. Auf die Frage, ob es auch einen sächsischen Dialekt der Gebärdensprache gibt, antwortet Zierold: „Ja, genau wie es einen Berliner Dialekt gibt. Ich selber liebe die sächsische Gebärdensprache, weil sie sehr viel differenzierter ist. Zum Beispiel haben Tante, Onkel und Cousine im Sächsischen sehr unterschiedliche Gebärden. Hier in Berlin ist es immer die gleiche Handbewegung, nur das Mundbild ist anders.“

Als erster tauber Parlamentarier fordert er die Demokratie heraus. Denn wie kann jemand, der nicht hören kann, in der Welt des gesprochenen Wortes, der Reden und Debatten bestehen? Ohne einen Dolmetscher und weitere Helfer ist er aufgeschmissen. Die Dolmetscher sind nicht nur Sprach-, sondern auch Kulturmittler. Sie müssen wissen, welche Stimmung Martin Zierold gerade rüberbringen möchte. Teilweise findet er die Sitzungen ermüdend. Er kann es nicht nachvollziehen, warum so viel Zeit mit leeren Worthülsen verschwendet wird. Was ihm seine Dolmetscher übersetzen, kommt bei ihm oft als leere Floskel an. Er ist Teil der Politik, doch er mag ihre Rituale nicht. „Hörende formulieren oft um tausend Ecken ohne Punkt und Komma“, so Zierold. „Wir beschränken uns in den Gebärden auf das Wesentliche, wir sind dadurch viel konkreter.“ Seine Dolmetscher gerieten oft an den Rand ihrer Übersetzungsfähigkeiten, wenn mehrere Abgeordnete durcheinander reden würden. Ein Kommunikationsassistent notiert ihm außerdem, was in den Reihen seiner Fraktion getuschelt wird, welche Zwischenrufe fallen. „Hörende können einer Rede folgen und gleichzeitig mitschreiben. Das geht bei mir nicht. Ich muss mich ganz auf den Dolmetscher konzentrieren. Das ist sehr anstrengend.“

Doch diese barrierefreie und gleichberechtigte Teilhabe an der Politik hat auch ihren Preis. Rund 60 Euro kostet einer seiner Dolmetscher pro Stunde. Der Grünen-Politiker geht davon aus, dass jährlich zwischen 50.000 Euro und 60.000 Euro zusätzliche Kosten zusammenkommen. In diesem Zusammenhang kann man sich natürlich die Frage stellen, wer die Kosten übernimmt. Nachfolgend ein Zitat aus einem Interview mit dem Deutschen Gehörlosen-Bund e. V. (DGB):

Um politisch tätig sein zu können, benötige ich Gebärdensprachdolmetscher. Das ist klar. Ansonsten habe ich keine Chance. Ich habe damals den Kreisverband der Grünen angefragt, ob er die Kosten für Gebärdensprachdolmetscher übernehmen könnte. Dort waren sie erst einmal etwas überrascht und unvorbereitet, als ich plötzlich mit meinem Anliegen an sie herantrat. Leider erlaubt(e) die knappe Haushaltslage nicht, die entstehenden Kosten zu übernehmen. Dieses Problem stellt sich bis heute. Auch der Landesverband kann die Kosten keineswegs vollständig tragen. Daher bin ich meiner politischen Arbeit immer auf ehrenamtlich tätige GebärdensprachdolmetscherInnen angewiesen. Ich habe einige StammdolmetscherInnen, die regelmäßig bei Sitzungen für mich dolmetschen und sich dabei abwechseln. Wenn diese nicht zum Einsatz kommen können, muss ich andere KollegInnen anfragen, ob sie bereit sind, ehrenamtlich für mich zu arbeiten und mich dadurch in meiner politischen Arbeit zu unterstützen. Das ist immer aufregend, weil ich nie weiß, ob es klappt. Teilweise ist es möglich, den Dolmetschern eine Aufwandsentschädigung zu zahlen. Aber ohne das ehrenamtliche Engagement wäre ich zur Untätigkeit verdammt. Daher bin ich sehr froh, dass es meistens klappt und ich die Sitzungen barrierefrei verfolgen und politisch wirken kann.

Wie bereits erwähnt gibt es in Deutschland weder im Deutschen Bundestag noch in den Landes- und kommunalen Parlamenten hörbehinderte Abgeordnete. Schaut man jedoch über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinweg, finden sich mit Helene Jarmer, einer österreichischen Politikerin der Grünen und Abgeordneten des Nationalrats, und dem ungarischen Politiker Ádám Kósá, seit 2009 das erste gehörlose Mitglied des Europäischen Parlaments, gehörlose Vertreter, die in der Politik tätig sind.

[Text: Jessica Antosik. Quelle: morgenpost.de, 14.02.2012; stern.de, 29.01.2012; taz.de, 11.12.2011; gehoerlosen-bund.de, 28.09.2011; jetzt.sueddeutsche.de, 15.09.2011; martin-zierold.de.]

Leipziger Buchmesse 2024