Ein Experiment: Theater in Gebärdensprache

Hörende haben überall die Möglichkeit, ins Kino oder ins Theater zu gehen. Bei Gehörlosen gestaltet sich dies allerdings schwierig – ein spezielles Angebot für sie gibt es nämlich nur selten.

Das Münchner Volkstheater hat am 23. April 2012 ein Experiment durchgeführt: Erstmals wurde ein Stück in Gebärdensprache aufgeführt. Die staatlich geprüfte Gebärdensprachdolmetscherin Simone Hofmüller übersetzte den Kaktus von Juli Zeh vorab, um das Stück simultan zeigen zu können. Die 35-Jährige arbeitete bei der Aufführung mit einer Kollegin zusammen.

In einem Interview mit dem Münchner Merkur berichtete Simone Hofmüller, wie sie darauf kam, den Kaktus in die Gebärdensprache zu dolmetschen:

Mein Mann ist Schauspieler und kennt deshalb Christian Stückl, den Intendanten des Volkstheaters. Als Herr Stückl von der Idee hörte, das Werk auch Gehörlosen näherzubringen, reagierte er sehr offen und stimmte dem Vorschlag zu. Es dauerte dann noch zwei lange Jahre, bis die Arbeit an der Übersetzung beginnen konnte.

Daraufhin beschrieb sie, wie genau die Übersetzung abläuft:

Zuerst habe ich den Text gelesen und mir danach die Inszenierung live und auf Video mehrere Male angesehen. Dann ging es an die eigentliche Übersetzung. Man muss bedenken, dass sich die Gebärdensprache von der Lautsprache immens unterscheidet, denn die Grammatik ist anders aufgebaut. In der Gebärdensprache folgen auf ein Subjekt erst Objekt und dann Prädikat. Ich muss also alle Sätze umstellen und gerade bei längeren Passagen kann es passieren, dass ich sie komplett neu formulieren muss. Das Einzige, was dann gleich bleibt, ist der Inhalt. Für Hörende würde sich das Ergebnis solch einer Übersetzung sehr fremd anhören.

Die Frage, warum sie nicht alleine dolmetscht, beantwortete Hofmüller so:

Zum einen gibt es ja vier Rollen, die kann ich nicht alle übernehmen. Deswegen werden sie zwischen meiner Kollegin und mir aufgeteilt. Außerdem lässt die Konzentration nach etwa 20 Minuten stark nach, ein perfektes Dolmetschen ist dann fast unmöglich. Da ist es gut, auf der Bühne einen Partner zu haben, damit man wenigstens ein paar Momente durchschnaufen kann.

Auf die Frage „Aber die Gehörlosen kriegen von der Atmosphäre und den Geräuschen nichts mit, oder?“ antwortete sie:

Doch, denn ich erkläre in einer Simultan-Übersetzung auch die Geräusche. Ich muss also das Stück und die Inszenierung mit all ihren Ausschmückungen im Kopf haben, das ist am Anfang ziemlich anstrengend. Das Wichtigste ist aber immer noch der Text. Sollte also zu viel aus dem Background kommen, muss ich bei der Übersetzung darauf verzichten.

Dazu, ob sie während der Vorstellung den Schauspielern nachläuft, äußerte sich die Gebärdensprachdolmetscherin wie folgt:

Normalerweise verfolge ich die jeweiligen Rollen wie einen Schatten. Diesmal funktioniert das aber nicht. Diese Bühne im Volkstheater ist so klein, dass wir am Rand stehen bleiben müssen. Das ist schade, denn die Gehörlosen müssen beim Zuschauen ständig von den Schauspielern zu den Dolmetschern wechseln, um alles mitzuerleben und zu verstehen. Manche empfinden das als unangenehm, aber man kann es leider nicht ändern.

Die Frage, ob sie abgesehen von den Platzgründen noch mit weiteren Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, beantwortete sie folgendermaßen:

Ja, und zwar mit dem Wortwitz im Kaktus. Man glaubt gar nicht, wie viele zweideutige Ausdrücke in der Lautsprache stecken. Gehörlose verstehen weder Wortwitze noch Ironie, deswegen ist es letztlich meine Aufgabe, ein passendes Äquivalent zu finden.

Das Interview können Sie in voller Länge auf der Website des Münchner Merkurs lesen.

Angesichts dessen, dass 2012 in Deutschland das „Jahr der Inklusion“ ist, hat die Bundesregierung einen Nationalen Aktionsplan verabschiedet, der auch Kulturinstitutionen dazu verpflichtet, etwas gegen die Ausgrenzung Behinderter zu unternehmen. Beispielsweise hat nun auch das Schauspiel Essen vor diesem Hintergrund zum ersten Mal einen Dolmetscher engagiert, der Stücke regelmäßig in Gebärdensprache dolmetscht.

[Text: Jessica Antosik. Quelle: merkur-online.de, 19.04.2012; kulturmanagement-portal.de. Bild: Maximilian Dörrbecker (Chumwa) (Wikipedia).]