Altersvorsorgepflicht für Selbstständige: Ursula von der Leyen will „Gerechtigkeitslücke“ schließen

Ursula von der Leyen
Ursula von der Leyen ist Bundesministerin für Arbeit und Soziales. - Bild: BMAS

„Ich finde es klasse, dass wir diskutieren. Wir sind noch in einem ganz frühen Stadium. Vieles steht noch nicht fest“, so beschwichtigt die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Ursula von der Leyen (CDU), die Gegner der geplanten Altersvorsorgepflicht für Selbständige.

Diese hatten sich in den vergangenen Wochen im Internet formiert und beim Deutschen Bundestag eine elektronische Petition mit der Überschrift „Keine Rentenversicherungspflicht für Selbständige“ eingereicht, die im Internet von mehr als 80.000 Unterstützern unterzeichnet wurde.

Von der Leyen erläutert in einer sechseinhalbminütigen Stellungnahme, die am 30.05.2012 als Video auf der Website des Ministeriums veröffentlicht wurde, die Eckpunkte des Konzepts. Deutschland betrete damit Neuland, während andere Länder wie die USA diesen Schritt bereits selbstverständlich vollzogen hätten. In vielen Ländern, wie zum Beispiel Frankreich, genießen Selbstständige und Freiberufler tatsächlich in dieser Hinsicht keine Privilegien, sondern unterliegen wie alle anderen Bürger der Rentenversicherungspflicht.

Das Problem

Die Zahl der Selbstständigen habe in den letzten 10 Jahren um eine halbe Million zugenommen. „Das ist klasse, das ist richtig gut – auch für den Standort Deutschland“, so die Ministerin. Aber es gebe Selbstständige, so von der Leyen vorsichtig formulierend, die gar nicht vorsorgten und sich darauf verließen, dass der Rest der Gesellschaft sie im Alter finanziell auffange. „Und deshalb müssen wir hier dann auch miteinander diese Gerechtigkeitsfrage diskutieren“, so von der Leyen.

Es gibt in Deutschland zurzeit 4,5 Mio. Selbstständige. Nur eine Million ist in der gesetzlichen Rentenversicherung oder einem berufsständischen Versorgungswerk abgesichert. 2,4 Mio. sind Solo-Selbstständige, die keine Mitarbeiter beschäftigen. Besonders diese Gruppe, zu denen auch  die Mehrheit der rund 30.000 Einzelübersetzer gehören, läuft Gefahr, im Alter auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein.

Branchenintern ist bekannt, dass viele Einzelübersetzer keinerlei eigene finanzielle Vorsorgemaßnahmen fürs Alter treffen und wegen zu geringer Einnahmen auch nicht treffen können.

Die zu drei Vierteln aus Frauen bestehende Berufsgruppe verlässt sich möglicherweise darauf, das Vermögen des Ehepartners zu erben und dadurch einen abgesicherten Lebensabend zu haben. Wegen der deutlich höheren Lebenserwartung von Frauen ist das durchaus eine realistische Hoffnung. Doch bei einer heutigen Scheidungsrate von rund 40 Prozent gleicht diese Strategie zunehmend einem Lotteriespiel.

Gesetzliche Rentenversicherung existiert seit mehr als 120 Jahren

Eine gesetzliche Rentenversicherung besteht in Deutschland bereits seit mehr als 120 Jahren (1889). Alle Selbstständigen und Freiberufler, also ausgerechnet die – zumindest in früheren Zeiten – traditionell Besserverdienenden, waren von der Teilnahme an dieser Solidargemeinschaft befreit.

Damit soll jetzt Schluss sein und die „Gerechtigkeitslücke“ geschlossen werden. Das Risiko der Altersarmut für Selbständige, das sich in den letzten zehn Jahren mit der Gründung vieler Hunderttausend schlecht verdienender „Ich-AGs“ massiv erhöht hat, soll auf diese Weise reduziert werden.

Alle im Bundestag vertretenen Parteien sind für Vorsorgepflicht

Aus der Video-Erklärung des Ministeriums für Arbeit und Soziales geht hervor, dass die Einführung einer Vorsorgepflicht als dringlich und überfällig betrachtet wird. Die Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP scheint fest entschlossen zu sein, bis zur Sommerpause einen Gesetzentwurf vorzulegen, damit die Vorsorgepflicht wie geplant ab Juli 2013 greifen kann. Diskussionsbereitschaft besteht offenbar nur noch in Fragen der konkreten Ausgestaltung.

Der SPD als größter Oppositionspartei gehen die Pläne sogar nicht weit genug, sie kritisiert die zahlreichen Ausnahmeregelungen. Die Sozialdemokraten wollen ausnahmslos alle Selbstständigen in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen lassen. Das Wahlrecht zwischen einer gesetzlichen und privaten Altersvorsorge sei falsch und nur ein Zugeständnis an die FDP „als Statthalter der privaten Versicherungen“, so SPD-Sozialpolitikerin Anette Kramme. Dies führe wie bei der Krankenversicherung dazu, dass erfolgreiche Selbstständige sich privat absicherten. Diejenigen mit geringeren Mitteln und höherem Erwerbsminderungsrisiko würden bei den privaten Versicherern keine attraktiven Tarife erhalten und damit in die gesetzliche Versicherung abgeschoben.

Die Grünen befürworten ebenfalls eine obligatorische Altersvorsorge, fordern aber staatliche Zuschüsse zu den Rentenbeiträgen für Kleinverdiener. So soll verhindert werden, „dass Erwerbstätige mit niedrigen Einkommen durch die Rentenbeiträge in Hartz IV fallen“, so Wolfgang Strengmann-Kuhn, rentenpolitischer Sprecher der Grünen.

Gesine Lötzsch, eine der beiden Parteivorsitzenden der Partei Die Linke, erklärte am 28.01.2012 in einer Rede auf dem Parteitag der schleswig-holsteinischen Linken:

Wir haben in unserem Land vier Millionen Selbstständige, und 30 Prozent von ihnen bekommen weniger als 1.100 Euro im Monat. Davon müssen sie sich versichern. Häufig reicht es nicht einmal, sich noch etwas für eine Rentenversicherung zur Seite zu legen. Sie werden im Alter auf Grundsicherung angewiesen sein, werden Bittsteller sein beim Staat. Ich finde, das ist ein Zustand, der nicht hinnehmbar ist.

Darum setzen wir uns als LINKE dafür ein, dass es eine gerechte Rentenversicherung gibt, dass es eine Rentenversicherung gibt, in die alle einzahlen und aus der auch alle etwas bekommen.

Die Gegner einer Vorsorgepflicht für Selbstständige können diesmal auch nicht auf die Unterstützung der gesellschaftspolitisch mächtigen Freiberuflergruppen der Ärzte und Anwälte zählen, denn diese sind durch eigene Versorgungswerke abgesichert und von den Plänen nicht betroffen.

Eckpunkte des Konzepts zur Altervorsorgepflicht von Selbstständigen

Die Vorschläge zur Altersvorsorge für Selbständige sind Teil des Rentenreformpakets der Bundesregierung. Auf der Website des Ministeriums werden die wesentlichen Grundzüge des Konzepts genannt:

  • Die Altersvorsorgepflicht gilt für alle Selbstständigen mit Ausnahme von bereits anderweitig abgesicherten Personen wie Künstlern, Publizisten, Landwirten sowie in berufsständischen Versorgungswerken abgesicherten Selbstständigen (zum Beispiel Architekten, Ärzte, Rechtsanwälte etc.).
  • Selbstständige im rentennahen Alter (über 50-Jährige) sowie nebenberuflich oder geringfügig bis 400 Euro pro Monat verdienende Selbstständige werden von der Vorsorgepflicht ausgenommen.
  • Für heute bereits selbstständig Tätige zwischen 30 und 50 Jahren, die vorgesorgt haben bzw. vorsorgen, gibt es Ausnahme- bzw. Befreiungsregelungen.
  • Die Pflicht zur Altersvorsorge gilt bis zur Grenze einer Basissicherung.
  • Die Altersvorsorge und ihre Erträge dürfen nicht vererblich, nicht übertragbar, nicht beleihbar, nicht veräußerbar und nicht kapitalisierbar sein. Die Alterssicherung muss als Rente ausgezahlt werden.
  • Die besondere Situation von Selbstständigen wird durch Möglichkeiten zur flexiblen Beitragszahlung und durch Beitragsfreiheit in der Existenzgründungsphase berücksichtigt. Durch Erleichterungen in der Einstiegsphase sollen Unternehmensgründungen nicht gefährdet werden.
  • Im Gegenzug zur Einführung einer generellen Altersvorsorgepflicht werden bisherige Versicherungspflichtregelungen für Selbstständige in der gesetzlichen Rentenversicherung abgeschafft (insbesondere die Handwerkerpflichtversicherung).
  • Die Altersvorsorgepflicht soll operativ zentral durchgeführt werden. Als Kompetenz- und Wissensträger bietet sich die Deutsche Rentenversicherung Bund an.

Haltung der Übersetzerverbände

Der Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer (BDÜ) erarbeitet zurzeit ein Positionspapier, auf dessen Grundlage auf die zuständigen Stellen Einfluss genommen werden soll. In seinem aktuellen Newsletter (Mai 2012) schreibt der Verband:

Der BDÜ lehnt eine verpflichtende Altersvorsorge für Selbstständige nicht grundsätzlich ab. Die Regelungen müssen dabei aber die spezifischen Bedürfnisse und Probleme selbstständiger Dolmetscher und Übersetzer berücksichtigen. Die finanzielle Belastung durch Vorsorgeleistungen muss sich an der persönlichen Lebens-, Einkommens- und Vermögenssituation orientieren. Die Wahlfreiheit Selbstständiger muss auch bei der Altersvorsorgepflicht gewahrt sein. Die administrative Belastung durch eine verpflichtende Altersvorsorge ist auf ein Minimum zu reduzieren.

Der erst 2011 gegründete Deutsche Verband der freien Übersetzer und Dolmetscher (DVÜD) hatte sich bereits am 15.05.2012 als erster Verband auf eine Position festgelegt und lehnt eine Rentenversicherungspflicht grundsätzlich ab. Auf der Website des Verbands heißt es kämpferisch:

Grundsätzlich betrachten wir eine Pflichtversicherung für Selbstständige und Freiberufler als sehr problematisch. Für viele Selbstständige und Freiberufler wäre eine Pflichtversicherung schlichtweg existenzbedrohend. Durch die monatliche Mehrbelastung würden Neugründungen massiv erschwert, da sich in den ersten Jahren einer freiberuflichen Tätigkeit das Geschäft oft erst entwickeln muss. Damit würde der Schritt in die Selbstständigkeit eine nicht unerhebliche zusätzliche finanzielle Belastung bedeuten, mit der Folge, dass viele den Schritt deshalb gar nicht mehr wagen würden.

Durch eine Rentenversicherung für Selbstständige und Freiberufler würde jungen Gründern die Möglichkeit genommen, sich überhaupt eine finanzielle und unternehmerische Existenz aufzubauen, die später gerade eine Möglichkeit zur eigenverantwortlichen Alterssicherung darstellt. […]

Der DVÜD e.V. schließt sich daher voll und ganz der Petition, die von Tim Wessels initiiert wurde, an: Der Deutsche Bundestag möge der Einführung eines Rentenversicherungszwangs für Selbstständige und Freiberufler nicht zustimmen. Insbesondere ist den hierzu von Arbeitsministerin von der Leyen vorgebrachten Plänen nicht zuzustimmen.

Von Seiten des ADÜ Nord und der ATICOM liegen noch keine Stellungnahmen vor.

Richard Schneider

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