Abschaffung der Schreibschrift in den Grundschulen – Lehrerverband DVLI schlägt Alarm

Lateinische AusgangsschriftIn den deutschen Grundschulen vollzieht sich seit 2011 ein Prozess, der von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird: Den Schülern wird zunehmend nicht mehr eine Schreibschrift in Form der „lateinischen Ausgangsschrift“ oder „vereinfachten Ausgangschrift“ beigebracht. Stattdessen lernen sie von Anfang an lediglich die Druckschrift, die verschleiernd als „Grundschrift“ bezeichnet wird.

vereinfachte Ausgangsschrift
Die so genannte „vereinfachte Ausgangsschrift“.

Treibende Kraft hinter dieser Entwicklung ist der Grundschulverband Arbeitskreis Grundschule e. V., ein privater Verein von Grundschullehrern. Kritiker bezeichnen das groß angelegte Experiment als „Absturz in die Steinzeit der Schriftgeschichte“.

Grundschrift
Die so genannte „Grundschrift“.

Der Deutsche Verband der Lehrer für Informationsverarbeitung e. V. (DVLI) kritisiert die Einführung der „Grundschrift“ scharf und schlägt in einem offenen Brief an die Kultusministerien der Länder Alarm. Nachfolgend veröffentlichen wir einige Auszüge (kursiv und eingerückt dargestellt):

Der Grundschulverband ist dabei, die „vereinfachte Ausgangsschrift“ (vA) durch eine „Grunddruckschrift“ (GDS) abzulösen. Die GDS ist in etwa vergleichbar mit der Blockschrift. Die Buchstaben stehen senkrecht und werden untereinander nicht verbunden. Teilweise muss auch innerhalb desselben Buchstabens abgesetzt werden.

 

Dass von der vA Abschied genommen werden muss, bezweifelt heute Gott sei Dank niemand mehr. Aber durch den Umstieg auf die GDS verläuft die Entwicklung dramatisch vom Regen in die Traufe. Es ist ein Absturz in die „Steinzeit der Schriftgeschichte“, ein Absturz um zwei Jahrtausende.

 

Denn in der Antike hatte man die Buchstaben eines Wortes nicht miteinander verbunden, und ihre Gestalt war senkrecht ausgerichtet. Jedoch bereits im frühen ersten Jahrtausend n. Chr. begann die Erkenntnis zu reifen, dass es nicht sinnvoll ist, bei der Gestaltung der Schrift allein auf die innere Unterscheidungskraft (Distinktivität) des Buchstabeninventars Wert zu legen, sondern auch gewisse biologische Fakten zu berücksichtigen sind, die sich aus der funktionalen Anatomie der schreibenden Hand ergeben.

 

Wenn der Schreibvorgang mit einem Minimum an Ökonomie und gleichzeitig gesundheitsschonend ablaufen soll, muss man der funktionalen Anatomie nämlich dadurch gerecht werden, dass man zwei bestimmte Schriftcharakteristika verwirklicht: 1. Verbinden der Buchstaben, 2. Kursivität (Schräglage) der Buchstaben.

 

„Fließendes Schreiben“ ist nur bei einer verbundenen Schrift möglich. Wer die Möglichkeit „fließenden Schreibens“ den unverbundenen Buchstaben der GDS andichtet, argumentiert nicht nur unseriös, sondern spekuliert auf Leichtgläubigkeit und Naivität seiner Kommunikationspartner.

 

Die Buchstaben eines Wortes in einer Handschrift nicht zu verbinden hat eine Reihe erheblicher Nachteile:

 

(1) Statt eines ruhigen Schreibflusses mit harmonischer, schwungvoller Buchstabenformung kommt es zu einer hochfrequent intermittierenden Wortbildentstehung, bei der die Hand eher hämmert als schreibt.

 

(2) Das hämmernde Zerhacken der Wortbilder hindert die Grundschüler daran, die Feinmotorik der Hand und der Finger durch natürliche Schreibbewegungen zu entwickeln, eine physische Fähigkeit, die auch anderen kreativen Leistungen der Hand zu Hilfe kommen würde (z. B. Malen und Zeichnen). Im Gegenteil, die in jedem jungen Menschen schlummernde Anlage zur Feinmotorik, zu deren Entfaltung die Grundschulphase den optimalen Zeitraum bietet, wird nicht genutzt, wird unterdrückt und verkümmert.

 

(3) Die in einer unverbundenen Handschrift natürlichen Schwankungen der Abstände zwischen den Buchstaben lassen immer wieder Zweifel darüber aufkommen, ob ein Grundschüler z. B. in „deswegen“ nach „des“ einen Leerschritt eingebaut hat oder beide Wortteile zusammen als   e i n   Wort betrachtet, zumal man bereits beobachtet hat, dass bei unverbundenen Buchstaben viele Schüler an den Morphfugen intuitiv einen vergrößerten Abstand entstehen lassen, wodurch sie der Gefahr ausgeliefert sind, das Gefühl für Wortgrenzen zu verlieren.

 

(4) Hochfrequentes Absetzen zumindest nach jedem Buchstaben bedeutet einen wesentlich erhöhten physischen Aufwand, d. h. Energieaufwand. Deshalb beobachten Lehrpersonen weiterführender Schulen – bis hin zu Universitäten –, dass Lernende, die die Buchstaben nicht verbinden, nicht besonders schnell schreiben, dafür aber besonders schnell erschöpft sind, über eine schmerzende Hand klagen und dann das Schreiben abbrechen.

 

(5) Das hochfrequent intermittierende Schreiben beansprucht ein erhöhtes Maß an mentaler Konzentration und behindert in diesem Maße dann den Gedankenfluss und seine sprachliche Formulierung, die man gerade niederschreiben will.

 

Der Grundschulverband argumentiert, die GDS sei für die Grundschüler deshalb die beste Lösung, weil sie überall in der Umwelt sowieso praktisch nur mit Druckschrift kon-
frontiert würden und sie diese dann leichter lesen lernten. Das ist aber ein Scheinargument. Denn:

 

(1) Den Jahrhunderten, in denen die Grundschüler in lateinischer Schreibschrift unterwiesen wurden – bis in das 20. Jahrhundert –, verdanken wir die Erfahrung, dass der Übergang vom Schreiben und Lesen der lateinischen Schreibschrift zum Lesen der Druckschrift in Lernbüchern, Zeitungen usw. nie ein didaktisches Problem gewesen ist. Man muss sich fragen, warum jetzt plötzlich ein solches Problem erfunden wird.

 

(2) Wenn es angeblich geboten erscheint, die GDS einzuführen, da sie den Zugang zum Lesen der Druckschrift schlechthin erleichtere, dann hat man in der Argumentation die Tatsache verschwiegen, dass wir in der Umwelt nicht mit nur   e i n e r ,   sondern mit Hunderten von Druckschriftarten konfrontiert sind, die sich in der Buchstabengestaltung zum Teil ganz erheblich unterscheiden. Folgte man der „Logik“ der Argumentation des Grundschulverbandes, müsste man den Grundschülern also Hunderte von Druckschriftarten nahebringen.

 

(3) Grundschüler, die nur mit der Druckschrift (oder verschiedenen Druckschriftarten) umzugehen gelernt haben, haben allerdings Schwierigkeiten, nach dem Übertritt in weiterführende Schulen die lateinische Schreibschrift der Lehrer zu lesen.

 

Unterrichtsfach Schrift/Schreiben wieder einführen

 

Der DVLI fordert, dass in der Grundschule wieder das Unterrichtsfach Schrift/Schreiben eingeführt wird, in dem das Schreiben nicht nur vermittelt, sondern zusammen mit der Rechtschreibung durch vielfältige Diktate geübt wird, und dass die Grundschullehrer in ihrer Ausbildung wieder – wie früher – das methodisch-didaktische Rüstzeug für die Schreiberziehung mitbekommen.

 

Erfindung der Schrift bedeutendste kulturelle Leistung der Menschheit

 

Die Verschriftung von Sprachen, die etwa um 3000 v. Chr. begonnen hat, ist die bisher bedeutendste kulturelle Leistung der Menschheit. Weltweit gibt es heute 14 Primarschriftsysteme. Sie alle sind als Handschriftsysteme konzipiert.

 

Die unübersehbar große Zahl von hinzugekommenen Druckschriftvarianten (Schriftarten) – sie dürften in die Tausende gehen – basieren auf diesen 14 Primarschriftsystemen und lassen sich unmittelbar auf sie zurückführen.

 

Primarschriftsysteme sind diejenigen Schriftsysteme, mit deren Hilfe Sprache sichtbar und aufbewahrungs- und weitergabefähig gemacht wird, ohne dass die Schrifterzeugung – egal, ob per Handschrift oder per Tastatur – in einen Wettlauf mit der Sprechgeschwindigkeit eintreten will.

 

Der Begriff Primarschriftsystem deutet darauf hin, dass es auch Sekundarschriftsysteme gibt. Das sind diejenigen Handschriftsysteme, die so intelligent-ökonomisch konstruiert sind, dass die mit ihnen erzielbare Schreibgeschwindigkeit die Sprechgeschwindigkeit erreichen und übertreffen kann. Hier handelt es sich um die weltweit verbreiteten Stenografiesysteme, deren Anzahl deutlich über die Zahl von 14 Primarschriftsystemen hinausgehen dürfte.

Kritiker: „Abschaffung der Schreibschrift setzt leichtfertig eine Kulturtechnik aufs Spiel“

Eine der wichtigsten Kritikerinnen der Grundschrift ist Ute Andresen. Die ehemalige Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben von 1999 bis 2002 vertritt die Ansicht, „dass Kinder sich das Schreiben nicht selbst beibringen können“. Die Grundschrift einzuführen bedeute, die Schreibschrift abzuschaffen. Das setze „leichtfertig eine Kulturtechnik aufs Spiel – die Fähigkeit, eine allen gemeinsame lesbare Schrift zu schreiben“.

Unterstützt wird Andresen u.a. von der Schriftstellerin Cornelia Funke. „Eine Druckschrift zu beherrschen reicht meiner Meinung als Handschrift nicht aus. Sie fließt nicht wie eine Schreibschrift und ist daher sehr viel langsamer. Eine fließende Handschrift dagegen fördert den Fluss der Gedanken – und ist gleichzeitig so individuell, dass man ganz bei sich ist.“

Andresen verwies schon 2010 in einer Artikelserie für die taz darauf hin, dass das Erlernen einer gebundenen Handschrift ein fundamentaler Lernvorgang für jedes Kind sei. Auf das Erlernen einer Schreibschrift zu verzichten, erhöhe die Gefahr der Bildungsarmut.

Der Leiter der Grundschullesestudie IGLU, Wilfried Bos, monierte die fehlende wissenschaftliche Fundierung des Projekts: „Es ist abenteuerlich, ein Reformprojekt wie die Einführung einer neuen Schrift ohne einen Modellversuch mit fundierter Begleitforschung zu beginnen.“

Der Chefredakteur der vierteljährlich erscheinenden Zeitung Deutsche Sprachwelt, Thomas Paulwitz, sammelt Unterschriften gegen die Abschaffung der Schreibschrift, weil damit ein wichtiges Kulturgut zerstört werde. Nur die großen Schulbuchverlage, die neue Materialien absetzen könnten, würden davon profitieren. Auch die Lehrer versprächen sich davon weniger Arbeit, so Paulwitz. Es könne jedoch nicht angehen, dass sich der Bildungssektor nur noch an den Schwächsten orientierte.

Renate Tost, Grafikerin und Mitentwicklerin der „Schulausgangsschrift“ der DDR (eingeführt 1968), hat sich ebenfalls kritisch zur Grundschrift geäußert.

Ausgangsschrift DDR
Die seit 1991 in ganz Deutschland gebräuchliche Schulausgangsschrift.

[Textzusammenstellung: Richard Schneider. Quelle: DVLI; Wikipedia. Bild: gemeinfrei (Wikipedia).]