Bundespräsident Gauck vor Literaturübersetzern: „Mit Begeisterung und aus vollem Herzen: danke!“

Joachim Gauck
Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Rede vor 400 Literaturübersetzern im Schloss Bellevue

„Kein Jubiläum drohte, kein Preis war zu vergeben, es gab keinen bestimmten Anlass, die Kunst des literarischen Übersetzens im Schloss Bellevue zu würdigen“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Und trotzdem hatte der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck am 27.05.2015 zu einem „Abend zur Würdigung der Kunst des literarischen Übersetzens“ geladen. Weil ihn seine Lebensgefährtin Daniela Schadt immer wieder dazu gedrängt hatte, wie er verriet.

Rund 400 Literaturübersetzer und sonstige Angehörige des Literaturübersetzungsbetriebes sowie Mitarbeiter des Sprachendienstes des Bundespräsidialamtes fanden sich im Berliner Amtssitz des Präsidenten ein.

Im vornehmen Ambiente von Schloss Bellevue stand zumindest einen Abend lang eine Berufsgruppe im Mittelpunkt, die sich oft über mangelnde Wertschätzung und Wahrnehmung beklagt. Das Programm bestand aus Ansprachen, Lesungen und Podiumsgesprächen – umrahmt von musikalischen Darbietungen.

Die Moderation übernahm der Literaturjournalist und Übersetzer Denis Scheck von der Fernsehsendung „druckfrisch“. Der ungarische Autor Péter Esterházy und seine Übersetzerin Terézia Mora trugen Original und Übersetzung vor. In einem Podiumsgespräch beklagte Leila Chammaa, Übersetzerin aus dem Arabischen, das Schicksal aller Übersetzer: „Je besser man seine Arbeit macht, desto unsichtbarer wird man.“

Die mehrfach ausgezeichnete Übersetzerin Rosemarie Tietze verwies auf die schöpferischen Aspekte des Übersetzens und erklärte, es sei ein Fehler der Übersetzer, wenn sie sich selbst als unsichtbar darstellten. Teilnehmer der Podiumsdiskussion war auch der Shakespeare-Übersetzer Frank Günther. Der Lyriker und Übersetzer Jan Wagner trug Gedicht-Übersetzungen vor. Höhepunkt des Abends war aber unbestritten die Rede des Bundespräsidenten im Großen Saal.

Terézia Mora, Péter Esterházy
Lesung und Gespräch mit Übersetzerin Terézia Mora und Autor Péter Esterházy

Lebensgefährtin Daniela Schadt hatte die Veranstaltung angeregt

„Das war weder Subkultur, noch ernsthafte Übersetzertagung, noch literaturkritischer Diskurs. Aber unterhaltsam“, bemerkt der Reporter der Berliner tageszeitung (taz), der zu folgendem Resümee kommt:

Es war ein würdiger Abend in dieser Staatskulisse, an dem Joachim Gauck seine präsidiale Funktion, gesellschaftliche Anerkennung zu geben, überzeugend und auch mit freundlicher Lockerheit ausfüllte.

 

Erkennbar hat das Bundespräsidialamt sich bei dem Programm große Mühe gegeben. Wie Joachim Gauck in seiner Rede selbst betonte, steckte seine Lebensgefährtin Daniela Schadt als Anregerin und Motor dahinter. Bis nach Mitternacht konnte man beide noch im angeregten Gespräch mit vielen Übersetzerinnen und Übersetzern sehen.

Bundespräsident, Jan Wagner
Der Bundespräsident unterhält sich mit dem Lyriker und Übersetzer Jan Wagner

Joachim Gauck: „Wir können einander verstehen: Das ist die zentrale philosophische Bedeutung von Übersetzung“

Nachfolgend die vollständige Rede des Bundespräsidenten im Wortlaut. Wichtige Aussagen haben wir fett hervorgehoben.

Literarische Anspielungen zum Thema Übersetzen noch im Ohr, kann ich es mir nicht verkneifen, auf eine kleine – wenn Sie so wollen – theologische Pointe im zitierten Faust-Monolog hinzuweisen, die meiner Kenntnis nach viel zu wenig beachtet wird.

 

Als Faust seine Übersetzung des ersten Satzes aus dem Johannesprolog, wie er meint, mit der Formulierung „Im Anfang war die Tat!“ endlich gefunden hat – genau in diesem Moment sucht ihn der Teufel heim! Oder besser gesagt: Der zugelaufene Pudel übersetzt sich selbst – und wird Mephisto: des „Pudels Kern“!

 

Das ist – wie alles in diesem grandiosen Werk – kein Zufall. Goethe weiß, dass derjenige, der aktionistisch die Tat als Anfang, als Prinzip von allem bestimmt, schon auf einer abschüssigen, ja letztlich teuflischen Bahn sich befindet. Was so beginnt, endet zum Schluss, im Faust II, bekanntlich mit einer Weltgestaltung, die von Weltzerstörung nicht mehr zu unterscheiden ist.

 

Nein, der „Logos“ des Johannesevangeliums ist nicht die Tat, er ist das Wort, er ist die Sprache, der Sinn, der geistige und geistliche Weltzusammenhang, die Ordnung des Kosmos: Im Anfang war der Logos.

 

Wo wir schon beim Griechischen sind, da kann man noch darauf hinweisen, dass der griechische Name für den Teufel, für den Mephisto „Diabolos“ ist, und das ist der große „Durcheinanderbringer“, der Feind und Vernichter jeder Ordnung, der Zerstörer jedes Sinns.

 

Mit dieser Bezeichnung wäre der Teufel auch der Gegner der Übersetzer – die ja gerade Zeugen dafür sind, dass es überhaupt Sinn gibt, also auch Entsprechung zwischen einander zunächst fremden Strukturen. Dass es eine entschlüsselbare Bedeutung des auf den ersten Blick Unverständlichen gibt. Dass sich wahrscheinlich jedes bedeutungsvolle Sprachphänomen sinnvoll in ein anderes bedeutungsvolles Sprachphänomen übertragen lässt.

 

Wer übersetzt, der hat eine Ahnung und der gibt letztlich eine Ahnung davon, dass etwas die Welt als ganze im Innersten zusammenhält. Und wenn Sie so wollen, ist allein die Tatsache, dass es Übersetzung gibt, dass Übersetzung möglich ist, der Beweis dafür, dass es einen allem Sein zugrundeliegenden, allen sich sprachlich artikulierenden Wesen erreichbaren und einsehbaren Sinn gibt.

 

Mit Kant zu sprechen: Die sinnvoll strukturierte, verstehbare und sagbare Welt ist die notwendige Bedingung der Möglichkeit dafür, dass es so etwas wie Übersetzung überhaupt geben kann. Folgen wir diesem Gedanken, dann sind Übersetzer also gleichzeitig Zeugen und Vollstrecker einer sprachlichen Metaphysik.

 

Ich kann das auch einfach sagen. Dann heißt der Satz: Wir können einander verstehen. Aber was so einfach klingt, ist doch, wenn es geschieht, jedes Mal ein Wunder. Wir können einander verstehen: Das ist die zentrale philosophische Bedeutung von Übersetzung, die aber gerade heute auch ungemein politische Bedeutung hat.

 

Wir reden oft und manchmal zu schnell vom Kampf der Kulturen, vom Aufeinanderprallen der Zivilisationen – und wir meinen täglich Beispiele dafür zu erleben, dass verschiedene Welten und ihre Bewohner sich mit Verständnislosigkeit, wenn nicht sogar Unverstand gegenüberstehen.

 

Dagegen aber sagt jede Übersetzung, sagt das Phänomen der Übersetzung selbst: Doch, wir können uns verstehen! Und mögen wir auch Fremdheit empfinden – es gibt keine absolute Fremdheit, kein absolutes Nicht-Verstehen, wo immer Menschen sprechen, wie immer Menschen sich ausdrücken.

 

Diese philosophische und politische Bedeutung steht nun oft im krassen Gegensatz zum Mangel an Wertschätzung für diejenigen, deren tägliches Handwerk das Übersetzen ist. Darum sollen Sie heute im Mittelpunkt stehen, die literarischen Übersetzerinnen und Übersetzer, aber auch die Dolmetscher vom Sprachendienst, Sie alle, die dafür sorgen, dass wir uns nicht nur theoretisch verständigen könnten, sondern auch tatsächlich und praktisch verstehen.

 

Aber immer noch gilt für eine große Zahl von Übersetzern, was Bundespräsident Roman Herzog 1997 sagte: „Das Verdienst [der Übersetzer] und der ‚Verdienst’, den sie dafür erhalten, steht in keinem gerechten Verhältnis“.

 

Wir werden das durch den heutigen Abend nicht fundamental ändern. Aber dieser Abend soll den großen Dank, den die Gesellschaft den Übersetzern schuldet, wenigstens einmal symbolisch zum Ausdruck bringen – und er kann vielleicht ein Schritt weiter auf dem Weg sein, der zur besseren, auch ökonomischen Anerkennung des Dienstes und des Verdienstes der Übersetzer führen mag.

 

Ich weiß, dass hier seit Jahren intensiv gerungen wird. Ich wünsche allen Bemühungen Erfolg, die dazu beitragen, dass diejenigen, die uns die Lektüre fremdsprachiger Literatur ermöglichen, auch weiterhin und gut in der Lage sind, diese wertvolle Aufgabe zu erfüllen.

 

Zu den Verdiensten der Übersetzer gehört vor allem, dass wir die Möglichkeit erhalten, uns geistig in anderen Kulturen zu bewegen als wäre es unsere eigene Welt. Es gibt keine wichtigere Voraussetzung für Toleranz und für Weltoffenheit als die elementare geistige Disposition, sich dem Anderen, dem Fremden öffnen zu können.

 

Da jeder von uns, auch bei großer Begabung und bei noch so großer Anstrengung immer nur ein kleines Reservoir an fremden Sprachen selber beherrschen kann, sind wir auf gute Übersetzungen angewiesen.

 

Dazu kommt: Übersetzen hilft uns, nicht nur das Andere, sondern auch uns selber besser zu verstehen und differenzierter auszudrücken. Die Übersetzung öffnet uns den Blick in einen „fernen Spiegel“. Die große Tradition des deutschen Übersetzens, ich erwähne nur die Übersetzungen antiker Texte etwa durch Voss oder Schleiermacher, die Bibelübersetzung Martin Luthers, die Shakespeare-Übersetzungen von Tieck und Schlegel, diese große Tradition hat der deutschen Sprache und damit unserem Denken und unserer Kultur immer wieder neue Begriffe gegeben, neue Ausdrucksmöglichkeiten und dadurch neue Weisen des Selbst-und Weltverständnisses.

 

Übersetzung bedeutet oft „Sprachgewinn“ – und das ist eben nichts anderes als „Wirklichkeitsgewinn“. Je höher die Übersetzungskultur war und ist, desto reicher und lebendiger wurde und wird das Deutsche selbst.

 

Übersetzung ist auch Handwerk, Knochenarbeit, wie viele Übersetzer sagen. Bevor Begriffe wie „Kulturvermittlung“ oder „Brückenbauen“ ins Spiel kommen können, steht die Arbeit am einzelnen Wort, am Satz, am Abschnitt, am Buch. Bevor das Andere uns als verständlich vor Augen treten kann, muss der Übersetzer, muss die Übersetzerin Wörterbücher wälzen, Tageszeitungen lesen, Sprachgeschichten studieren, Autoren-Welten erlesen und verinnerlichen.

 

Übersetzer müssen Sprachspiele verschiedener Milieus, Schichten, Berufswelten erkennen. Wie spricht eine Salondame im Juli 1830 in Paris, wie spricht ein russischer General 1943 vor Stalingrad, wie spricht ein Wall-Street-Broker 1987, wie 2007, wie klagt eine Palästinenserin in Bethlehem 2012? Und wie würden sie alle auf Deutsch geredet haben oder reden? Und in welchem Deutsch sollen sie reden, im heutigen oder in dem ihrer Zeit?

 

Die hellhörige Genauigkeit, die Leidenschaft für die Vielfarbigkeit der Ausdrucksweisen, die souveräne Kennerschaft des sprachlichen Atlas einer fremden Kultur: Das alles zusammen sorgt dafür, dass wir wirklich gute Übersetzungen bekommen. Nur so bewahren uns die guten Übersetzer vor der alles nivellierenden globalen Einsprachigkeit.

 

Wenn Esther Kinsky davon spricht, dass man sich auf die „Andersnamigkeit“ der Welt einlassen muss, dann finde ich das einen sehr schönen Begriff für diese Arbeit, die ich mir als schwierig und schön zugleich, als einerseits anstrengend und frustrierend und andererseits beglückend und immer wieder beschenkt von Einsicht und Gelingen vorstellen kann – auch im Aushalten von Fremdheit und scheinbar Unübersetzbarem.

 

Der Übersetzer arbeitet auf eigene Verantwortung. Wenn es auch viel kollegialen Austausch gibt, zum Beispiel in so einer verdienstvollen Einrichtung wie dem europäischen Übersetzerkolleg in Straelen, so bleibt der Übersetzer am Ende doch ein Hochseilartist, der allein balancieren muss, allein und auf eigene Gefahr.

 

Ich freue mich, dass wir heute Abend hier im Schloss Bellevue eine ganze Reihe dieser Artistinnen und Artisten versammelt haben, dazu auch Vertreter von Institutionen, die diesen Einzelnen ihr Geschäft erleichtern. Einige kommen gleich – exemplarisch – zu Wort, die dann noch gesondert vorgestellt werden. Mir bleibt es, Denis Scheck ganz herzlich zu begrüßen und ihm zu danken, dass er uns durch diesen Abend führen wird. Seine Leidenschaft für gute Literatur schließt auch die Leidenschaft für gute Übersetzungen ein – und darum freue ich mich, dass er heute hier ist.

 

Zum Schluss noch einmal zurück zur Theologie, der im Übrigen vielleicht anspruchsvollsten Übung in Übersetzung, denn hier soll ja göttliches Wort, das heißt Mysterium, letztlich Unsagbares in menschliche Sprache gebracht werden:

 

Als die Bibel beschrieb, wie es nach dem Turmbau zu Babel zur Verwirrung der Sprachen kam, da wurde diese Multiplikation der Sprachen eindeutig als Übel, als schwere Strafe begriffen – und keineswegs als Startschuss für eine allseits bereichernde multikulturelle Vielfalt.

 

Die Aufspaltung in verschiedene Sprachen und Kulturen wird geradezu als Phänomen von menschlicher Hybris und Gottesferne erzählt – und später, im Neuen Testament, wird dann das Einander-Verstehen der Fremden, jenes Pfingstwunder der Kommunikation, als Zeichen für das Wirken göttlicher Gegenwart begriffen. Da am vergangenen Wochenende Pfingsten war, hätte dieser Abend gar nicht sinnvoller terminiert sein können.

 

Wenn Sprache und Verstehen eine so herausragende, an die Präsenz des Göttlichen rührende Qualifikation zugeschrieben wird, dann wissen wir, was Übersetzer auch sind: Boten einer Welt, in der man sich verstehen kann – oder, so Gott will – versteht.

 

Sie aber, die Übersetzer, warten nicht auf ein Wunder. Sie wissen, dass pfingstliche Feuerzungen selten sind. Deswegen machen sie sich an die Arbeit, Tag für Tag. Geduldig, unbeirrt und eigensinnig bringen sie fremde Welten in unsere schöne deutsche Sprache – und machen sie dadurch noch schöner. Oder Sie tragen Gedanken aus unserer Sprache hinaus in eine andere. Und uns allen schenken sie Tag für Tag ein Stück neuen Verstehens, neuer Perspektive, neuer Welt. Das brauchen wir!

 

Und deshalb mit Begeisterung und aus vollem Herzen: danke!

[Text: Richard Schneider. Quelle: Bundespräsidialamt; taz, 2015-05-28. Bild: Pressebilder des Bundespräsidialamts von Guido Bergmann.]

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