England und Wales: Mehr als 24 Millionen Euro pro Jahr für Gerichtsdolmetscher – Tendenz stark steigend

Gerichtssaal Liverpool
Auch im Crown Court Room der St Georges Hall in Liverpool mussten Verhandlungen ausfallen, weil Capita keine Dolmetscher stellen konnte.

Nach Angaben des britischen Justizministeriums wurden in England und Wales im Abrechnungszeitraum 2011/2012 umgerechnet etwas mehr als 16,9 Mio. Euro für Gerichtsdolmetscher ausgegeben – einschließlich der damit in Zusammenhang stehenden Übersetzungen und dem Telefondolmetschen.

Ein Jahr später, 2012/2013, waren es 5,6 Mio. Euro mehr, nämlich 22,5 Mio. Euro. Im Abrechnungszeitraum 2014/2015 kamen noch einmal 1,7 Mio. Euro hinzu, sodass sich der Gesamtbetrag aktuell auf umgerechnet 24,2 Mio. Euro beläuft (12, 16, 17,2 Mio. GBP). Das entspricht einem Anstieg um 43,2 Prozent innerhalb von zwei Jahren.

Auf Vorhaltungen des konservativen Parlamentsabgeordneten David Davies, der die Zahlen an die Öffentlichkeit brachte und eine Begrenzung der Ausgaben fordert, erklärte ein Sprecher des Justizministeriums: „Der neue Vertrag [mit ALS/Capita] für Dolmetschdienstleistungen hat zu beträchtlichen Kosteneinsparungen geführt. Bis 2012 wurden die Dolmetscher von den Gerichten persönlich geladen und es gab keine zentrale Koordinierung oder Kontrolle. Dieses System kostete rund 30 Mio. Pfund pro Jahr. Das ist fast das Doppelte von dem, was wir im vergangenen Jahr ausgegeben haben.“

Gavin Wheeldon, ALS und Capita TI – die Totengräber des britischen Gerichtsdolmetscherwesens

Das britische Justizministerium hatte im August 2012 nach einer Ausschreibung die Organisation des gesamten Dolmetscherwesens für die Gerichte, Staatsanwaltschaften, die Polizei und die Gefängnisse in England und Wales einem einzelnen Dienstleister übertragen, der Applied Language Solutions Ltd (ALS). ALS war 2003 von dem branchenfremden Geschäftemacher Gavin Wheeldon gegründet worden.

Nachdem der Fünf-Jahres-Vertrag mit dem Justizministerium über ein Volumen von umgerechnet 423 Mio. Euro unter Dach und Fach war, verkaufte Wheeldon seinen Laden nur vier Monate später, im Dezember 2011, an den 70.000 Mitarbeiter starken Dienstleister Capita plc, einen „provider of business process management and integrated professional support service solutions“.

ALS wurde in Capita Translation and Interpreting (Capita TI) umbenannt und der durch den Deal zum Multimillionär gewordene Wheeldon blieb noch ein halbes Jahr Geschäftsführer. Capita nahm schließlich am 30.01.2012 seine mit dem Ministerium vereinbarte Aufgabe als Organisator für das Gerichtsdolmetscherwesen in England und Wales auf.

Doch der Sprachdienstleister war überfordert und stürzte nicht nur das Dolmetscherwesen, sondern das gesamte Gerichtswesen ins Chaos. Die vertragliche Vorgabe eines Vermittlungserfolgs von 98 Prozent konnte zu keinen Zeitpunkt erfüllt werden. Im ersten Monat konnte das Büro lediglich für 66 Prozent der Ladungen erfolgreich einen Dolmetscher stellen. Ein Jahr später waren es immer noch erst 86 Prozent.

Im ersten Quartal der Dienstleistungen gingen von Seiten der Justiz 2.232 Beschwerden bei Capita ein. Zahllose Gerichtsverfahren mussten ausgesetzt oder wegen unqualifizierter Dolmetscher wiederholt werden. Capita wurde zu Vertragsstrafen verurteilt.

Capita zahlt Gerichtsdolmetschern einen Stundensatz, der umgerechnet lediglich zwischen 22,50 und 31,00 Euro liegt. Mehr als die Hälfte der erfahrenden und etablierten Gerichtsdolmetscher boykottiert den Sprachdienstleister daher seit Jahren.

In Deutschland erhalten direkt vom Gericht beauftragte Dolmetscher 70,00 Euro pro Stunde für konsekutives Dolmetschen und 75,00 Euro für das Simultandolmetschen.

Weiterführende Links

[Text: Richard Schneider. Quelle: express.co.uk, 2015-06-17. Bild: sas/Fotolia.]

Leipziger Buchmesse 2024