Die technische Dokumentation von morgen: mobil, intelligent und mit autonomen Informationseinheiten

Größere Änderungen treten nie schlagartig ein. Sie werden vorher durch verschiedene Signale angekündigt. In der technischen Dokumentation mehren sich diese Signale. Der Jahresanfang ist wahrscheinlich der beste Zeitpunkt, um diese vielen Hinweise zu sammeln und zu überlegen, was sie uns über die Dokumentation von morgen verraten. Interessant ist auch zu wissen, was diese Entwicklungen für die Arbeit von Redakteuren und Übersetzern bedeuten.

Trend zur mobilen Dokumentation

Mobile DokumentationAls Erstes fällt die zunehmende Bereitstellung von Dokumentationen für mobile Geräte auf. Smartphones und Tablets gehören längst zum Alltag. „Wearables“ wie Smartwatches und Datenbrillen sind im Anmarsch. Über eine Internet-Verbindung lassen sich manche Inhalte ständig aktualisieren. Dieser Trend zur mobilen Dokumentation wirkt sich nicht nur auf rein technische Aspekte, auf die Ausgabeformate und das Layout aus. Er beeinflusst auch die Inhalte, die auf der knapp bemessenen Oberfläche verständlich und nutzbar sein müssen.

Trend zur Verselbstständigung der Informationseinheiten

Ein weiterer Trend betrifft das größere Gewicht der Informationseinheiten (IE). Formate wie DITA unterstützen diesen Trend. Nach wie vor gehört eine vollständige Dokumentation zum Produkt. Deswegen haben Anwendungshandbücher für Software oder Bedienungsanleitungen für Maschinen und Anlagen auch langfristig ihre Existenzberechtigung.

Aber das Nutzerverhalten ändert sich, nicht zuletzt aufgrund der Möglichkeiten, die neue Medien und das Web bieten. Der Fokus verschiebt sich hin zu den Informationen, die der Benutzer augenblicklich braucht, um ein Problem zu lösen oder eine Aufgabe durchzuführen.

ModularisierungInformationseinheiten verselbstständigen sich dadurch. Sie müssen weitgehend für sich allein stehen und alle Informationen enthalten, die für eine sichere Durchführung der Aufgabe notwendig sind. Autonome zielgruppen-, situations- und aufgabenbasierte Topics stehen zwar nicht im Widerspruch zu vollständigen Dokumentationen, aber sie werden tendenziell öfter eingesetzt.

Sie können dadurch die Organisationsprinzipien mancher Content-Management-Systeme (CMS) beeinflussen, die seit Jahren gelten. Die Mehrheit der CMS ist heute fast ausschließlich auf die Produktion von Gesamtdokumentationen ausgerichtet.

Trend zu intelligenten Dokumentationen

Mit der Einführung von XML im Jahr 1996 als Weiterentwicklung von der SGML-Norm wurde die Basis für intelligente Dokumentationen gelegt. Ursprünglich diente XML in der technischen Dokumentation primär dazu, formatneutrale Informationen zu produzieren, in denen Text und Format voneinander getrennt sind, etwa um aus einer Quelle unterschiedliche Publikationen wie Online-Hilfe oder Print zu generieren.

Darüber hinaus war die Aufgabe von XML, Inhalte mit Tags wie „Warnhinweis“ oder „Arbeitsschritt“ semantisch anzureichern. Neu ist nun die Möglichkeit, dynamisch aus dem Dokument auf externe Wissensbestände (z. B. firmeninterne OWL-basierte Ontologien über Produkte, Produktionsverfahren, Systeme usw.) zuzugreifen und daraus mithilfe integrierter Applikationen Aktionen abzuleiten. Nach diesem Prinzip entwickelte beispielsweise der französische Automobilhersteller Renault einen Prototyp für ein Reparatur- und Diagnosesystem.

Trend zur Programmfähigkeit der Dokumentation

Damit einhergehend lässt sich ebenfalls ein Trend zu Dokumentationen beobachten, die programmfähig sind. Das gilt insbesondere für Dokumentationen, die auf mobilen Geräten eingesetzt oder über eine Web-Schnittstelle benutzt werden. Die Dokumentation ist nicht mehr passiv, sondern verfügt über interaktive Funktionen, die mit dem Benutzer bzw. mit der Anlage oder Software kommunizieren.

Virtuelle Realität, Koppelung an Sensoren, Standorterkennung über GPS, Stimmerkennung und -verarbeitung usw. sind einige sichtbare Erscheinungen dieses Trends.

Trend zur Autoorganisation der Dokumentation

Bei Industrie 4.0 verfügen intelligente Objekte über drei Fähigkeiten:

(1) Wahrnehmung der Umgebung und der Umgebungsänderungen (über Sensoren usw.),
(2) Analyse und Verarbeitung externer Daten sowie Erzeugung von Daten,
(3) Interaktion mit der Umgebung.

Damit sind sie in der Lage, sich in cyber-physischen Produktionssystemen selbständig zu organisieren. Noch kann man dasselbe nicht für die Dokumentation behaupten. Es ist aber die logische Parallelentwicklung zu den Produktionsprozessen von Industrie 4.0.

Künftig werden intelligente Informationseinheiten sich auf ähnliche Art und Weise selbstständig zu Ad-hoc-Dokumentationen bündeln. Sie werden dabei verschiedenartige Datenquellen beziehen, z. B. Informationen von Lieferanten. Wie bei den „Smart Products“ werden elektronische Agenten mithilfe der in XML-basierten Formate wie RDF oder OWL hinterlegten Intelligenz die benötigten Informationseinheiten erkennen und nach einem bestimmten Schema sammeln.

Wissenshaltige Dokumentation, die sich selbst organisiert

ModularisierungSomit zeichnet sich ein Bild der Dokumentation von morgen ab. Nicht alles wird gleichzeitig eintreten, aber die Entwicklung geht in die Richtung einer wissenshaltigen Dokumentation, die abhängig von der Situation, von der Aufgabe oder vom Nutzerkreis sich selbst organisieren und zusammenlegen wird.

Dokumente werden über eine künstliche Intelligenz verfügen, das Umfeld erkennen und mit ihm bzw. mit dem Benutzer interagieren. Sie werden in der Lage sein, Informationen zu übertragen, bei Entscheidungen zu beraten, Befehle zu verstehen, Aktionen zu dokumentieren und auszulösen.

Folgen für Inhalte und Informationsmodelle

Diese Entwicklung wird nicht ohne Folgen für die Inhalte und die Informationsmodelle bleiben. Der Trend zur Verselbstständigung der Informationseinheiten bedeutet, dass die Inhalte weitgehend für sich allein stehen müssen. Verweise auf Informationen in anderen Teilen der Dokumentation werden tendenziell weniger vorkommen. Auch wird für manche Anwender die Größe der IEs auf dem Prüfstand stehen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn selbstständige Informationseinheiten Warnungen oder Voraussetzungen für eine Handlung aufnehmen müssen.

Rolle der Terminologie

Mehr denn je kommt in diesem Zusammenhang der Terminologie eine wichtige Aufgabe zu, denn Terminologie ist sozusagen der Ankerpunkt für viele relevante Mechanismen in der Dokumentation von morgen: Automatisches Auszeichnen, Erkennen, Verstehen, Handeln. Damit dynamisch zusammengelegte IEs reibungslos zusammenpassen, damit Aktionen ausgelöst oder Entscheidungen unterstützt werden können, sind eine standardisierte und vernetzte Terminologie sowie eine kontrollierte Sprache ausschlaggebend.

Deswegen werden Redaktionsabteilungen von einer langjährigen Terminologiearbeit profitieren, in der Terminologie systematisch und mehrsprachig aufgebaut wird. Das beinhaltet den heute noch wenig verbreiteten Aufbau von wissenshaltigen Terminologiebeständen, in denen Begriffe über Relationen miteinander verknüpft sind.

Technischer Redakteur wird zum Informations- und Wissensarchitekt

Das alles wird das Berufsbild des technischen Redakteurs nachhaltig beeinflussen. Immer mehr wird der Redakteur zum Informations- und Wissensarchitekt. Über die reine Beschreibung von Anlagen oder Handlungen hinaus wird der Redakteur die verschiedenen Modelle und Situationen simulieren und planen müssen, in denen Informationselemente zum Einsatz kommen. Neue Formate wie RDF oder das Ontologie-basierte OWL werden zu den Handwerkzeugen des Redakteurs gehören.

Übersetzer muss an Wissensaspekten mitwirken können

Auch für den Übersetzer stellt der Aufbau von wissenshaltigen Dokumentationen neue Herausforderungen dar. Das reine Übersetzen von Wissenselementen aus einem Sprach- oder Kulturraum wird nicht reichen, denn Sprachen strukturieren die technische oder fachliche Realität auf unterschiedliche Weise. Man denke z. B. an die unterschiedlichen Auslegungen eines Begriffs wie „Sicherung“ oder „Gefahr“ in verschiedenen Sprachen.

Daher werden Übersetzer, die an den Wissensaspekten mitwirken können, gefragte Partner sein.

[Text: D.O.G. GmbH (www.dog-gmbh.de). Quelle: D.O.G. news 1/2016. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Dr. François Massion. Bild: Apops/Fotolia, Fotomek/Fotolia, Scainrail/Fotolia.]

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