ESC-Motto 2017: „Celebrate Diversity!“ – Aber 21 von 26 Ländern singen auf Englisch

Celebrate Diversity
Bild: Eurovision

„Celebrate Diversity“ hieß das offizielle Motto gestern beim Eurovision Song Contest (ESC). „Der Slogan wird ergänzt durch ein Logo, das auf der traditionellen ukrainischen Perlenkette namens Namysto basiert. Sie besteht aus vielen verschiedenen Perlen, jede mit eigenem Design als Ausdruck für Vielfalt und Individualität.“ So erklärt es die Eurovision auf ihrer Website. Man hat sich also durchaus etwas dabei gedacht.

Einheitssprache statt europäischer Vielfalt

Die meisten teilnehmenden Länder schienen diesen Aufruf jedoch nicht gehört oder nicht verstanden zu haben. Die meisten sangen in einer ihnen fremden Verkehrssprache (Englisch), viele kauften das Liedgut im Ausland bei Fließband-Komponisten ein und versuchten, durch aufwändige Tanzdarbietungen und visuelle Effekte von der dürftigen musikalischen Qualität ihrer Beiträge abzulenken. De facto war also wieder einmal auf Kommerz getrimmter Einheitsbrei statt Vielfalt angesagt.

Dies kommt in besonderem Maße in der Wahl der Vortragssprache zum Ausdruck. Wenn man Großbritannien und Australien nicht mitzählt, dann besaßen von den 26 Teilnehmerländern des Finales lediglich fünf das Selbstbewusstsein, in ihrer Muttersprache zu singen: Frankreich, Italien, Portugal, Ungarn und Weißrussland.

Drei ukrainische Moderatoren, aber alle sprechen Englisch

Selbst die Ukraine als gastgebendes Land ließ die drei Moderatoren (nur Männer) ausschließlich Englisch sprechen. Die einmalige Gelegenheit, die ukrainische Sprache einem Publikum von mehr als 200 Millionen Zuschauern zu präsentieren und für sie zu werben, ließ man ungenutzt verstreichen.

In früheren Jahren war es noch Usus, dass ein Moderatorenpärchen (meist eine Frau und ein Mann) zweisprachig durch den Abend führt – in der Landessprache und auf Englisch.

Portugal macht alles falsch – und gewinnt trotzdem

Einer der wenigen Lichtblicke des Abends war der Beitrag Portugals. Getextet und komponiert von Luísa Sobral, der Schwester des Interpreten, gesungen auf Portugiesisch und vorgetragen in einem mit Violine und Piano spärlich instrumentierten landestypischen Musikstil.

Der Sänger Salvador Sobral stand alleine in einem dunklen, zu großen und schlecht sitzenden Anzug auf der Bühne, es tanzten keine halbnackten Hupfdohlen um ihn herum und kein einziger pyrotechnischer Effekt wurde gezündet.

Das kleine Land im äußersten Südwesten Europas hatte also aus der Sicht von Musikvermarktern und Globalisierern alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann.

Und trotzdem – oder gerade deswegen – führte das Liebeskummerlied „Amar pelos dois“ während der gesamten Auswertung die Tabelle an und fuhr einen überzeugenden Sieg ein. (Der Titel „Für beide lieben“ greift die letzte Zeile des Textes auf, die „dann kann mein Herz für uns beide lieben“ lautet.)

Salvador Sobral kritisiert mit Pyrotechnik aufgemotzte Fastfood-Musik

Salvador Sobral
Salvador Sobral. – Bild: Andres Putting für Eurovision

Nach Annahme der Siegertrophäe erklärte Salvador Sobral – diesmal auf Englisch, damit es auch alle verstehen: „We live in a world of disposable music. Fast food music without any content. This could be a victory for music – with people that make music that actually means something. Music is not fireworks. Music is feeling. So let’s change this and bring music back.“

Ungewöhnlich viel Kritik und Unverständnis gegenüber Siegerlied

Während die Fachwelt jubelt (Musikexpress: „Ein Sieg für wahre Musiker und echte Musik.“) und die melodiöse Kraft des Lieds mit Klassikern wie „Somewhere over the rainbow“, „What a wonderful world“ oder „Moon river“ verglichen wird, kritisieren Banausen auf Twitter, dass die Musik des portugiesischen Beitrags „träge“ und dessen Darbietung „langweilig“ sei.

Ungewöhnlich groß ist diesmal der Anteil derer, die nicht nachvollziehen können, warum diese leisen Töne höher bewertet werden als die „tollen Performances“ der anderen Interpreten und Gruppen. Viele erklären freimütig, sich dieses „Genuschel“ und „Gejammer“ nicht anhören zu wollen.

Darüber hinaus wird Sobral vorgeworfen, in einer Sprache zu singen, „die niemand versteht“.

„Diversity“ setzt Bereitschaft voraus, sich auf andere Sprachen und Kulturen einzulassen

Aber genau das ist „Diversity“. In diesem Fall: eine Sprache, die man nicht versteht (Portugiesisch) und Musik mit Anklängen an Stile, die man nicht kennt (Fado, Bossa Nova, Jazz).

Kulturell aufgeschlossene Menschen sollten in der Lage sein, sich für die Dauer von 3 Minuten auf andere Sichtweisen einzulassen. Vielfalt bedeutet nicht, dass alle sich auf Englisch unterhalten. Vielfalt bedeutet nicht, dass alle Britpop produzieren.

Den Jurys und Fernsehzuschauern gefiel der portugiesische Beitrag am besten

Dass beim ESC 2017 nicht nur die mit Musikkennern besetzten Landesjurys, sondern auch das musikalisch eher unbedarfte Publikum in ihrem Votum zugunsten des portugiesischen Beitrags übereinstimmten, gibt allerdings auch Kulturpessimisten Anlass zur Hoffnung.

Weiterführende Links

Der norwegische ESC-Sieger aus dem Jahr 2009, Alexander Rybak, ist ebenso wie Salvador Sobral ein echter Musiker. Er hat auf die Schnelle eine gelungene englischsprachige Version aufgenommen und auf YouTube online gestellt. Der Text ist frei nachgedichtet und hat mit der portugiesischen Fassung nichts zu tun, trifft die Atmosphäre des Lieds aber ganz gut.

Alle, die sich mit der portugiesischen Sprache schwertun, dürften über die englische Interpretation von Rybak einen leichteren Zugang zur musikalischen Qualität des Lieds finden:

Dass von den Geschwistern Sobral noch einiges zu erwarten ist, zeigen frühere Stücke, die nun auch außerhalb Portugals ein etwas breiteres Publikum finden dürften:

Richard Schneider

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