Weltlesebühne: „Arbeit von Literaturübersetzern sichtbar machen“ – Gespräch mit M. Kempter und G. Leupold

Gabriele Leupold und Martina Kempter
Gabriele Leupold (links) und Martina Kempter leiten die Weltlesebühne. - Bild: Ebba Drolshagen

Anlässlich des Internationalen Übersetzertags lädt die Weltlesebühne am 30. September 2017 weltweit zu 39 Veranstaltungen rund um das Übersetzen ein. Ziel der länderübergreifenden Aktion ist es, die Arbeit von Literaturübersetzern anschaulich und sichtbar zu machen.

Die Vereinsvorsitzenden Martina Kempter und Gabriele Leupold erläutern im nachfolgenden Gespräch, was die Aktion einzigartig macht und welches Ziel sie damit verfolgen.

Zum Internationalen Übersetzertag – zu Ehren des Bibelübersetzers Hieronymus, der als Schutzpatron der Übersetzer gilt, auch Hieronymustag genannt – finden regelmäßig Veranstaltungen statt, die die Kunst des Übersetzens thematisieren. Was ist das Besondere an Ihrer Aktion?

Martina Kempter: Seitdem 1991 die FIT (Fédération Internationale des Traducteurs) den Gedenktag des Heiligen Hieronymus, den 30. September, zum Internationalen Übersetzertag erklärt hat, setzen sich Literaturübersetzer überall in der Welt intensiv dafür ein, an diesem Tag ihre Arbeit für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen.

So finden zum Hieronymustag alljährlich Veranstaltungen statt, bei denen Übersetzer aus den von ihnen übersetzten Werken lesen oder über ihre Arbeit sprechen. In den letzten Jahren hat der Berufsverband der Literaturübersetzer VdÜ diesen für uns Übersetzer besonderen Tag publik gemacht, er regte öffentliche Aktivitäten seiner Mitglieder an und unterstützte sie bei der Umsetzung – dieses Engagement war für uns von großer Bedeutung.

Gabriele Leupold: Seit 2014 plant die Weltlesebühne ihre Aktivitäten zum Hieronymustag zentral: Das Besondere ist die Vielzahl der Auftritte und ihr beabsichtigter Seriencharakter – bei aller Individualität der beteiligten Übersetzer, der vorgestellten Texte und der Auftrittsorte.

Martina Kempter: Unsere Veranstaltungen zum Hieronymustag haben in den letzten Jahren große Resonanz gefunden. Überall ist unser Publikum auf Tuchfühlung mit den auftretenden Übersetzern gegangen und hat begeistert die Gelegenheit genutzt, um zu erkunden, was genau beim Literaturübersetzen vor sich geht.

Die Entstehung eines Textes live mitverfolgen zu können, ist so reizvoll, dass wir an diesem Veranstaltungsformat gern festhalten und die literarisch interessierte Öffentlichkeit weiter dazu einladen wollen.

Auch in diesem Jahr finden viele Veranstaltungen im Format des „Gläsernen Übersetzers“ statt – was genau kann man sich darunter vorstellen und warum haben Sie sich hierfür entschieden?

Gabriele Leupold: Der „Gläserne Übersetzer“ ist eine Art Installation, die nahezu überall realisiert werden kann – ob im Foyer oder der Lounge einer Bibliothek, in einem Theatercafé oder im Schaufenster einer Buchhandlung. Man braucht nur einen „Arbeitsplatz“: Tisch, Stuhl, Laptop, vielleicht ein paar Nachschlagewerke, 2 große Bildschirme, für das Publikum ein paar Sitzgelegenheiten und vielleicht ein Mikrophon.

Der Übersetzer tut, was er immer tut: Er hat den Originaltext vor sich und arbeitet an seiner Übersetzung, in diesem Fall jedoch vor Publikum. So wird für die Zuschauer transparent, welche Passagen dem Übersetzer eventuell Schwierigkeiten bereiten, welche Nachschlagewerke er bei welchen Begriffen zurate zieht und wieviel Einfallsreichtum und Feingefühl beispielsweise bei der Übersetzung von Begriffen, die im Deutschen nicht existieren, oder bei der Übertragung von hintersinnigen Wortspielen und Soziolekten gefragt sind.

Martina Kempter: Das Schöne ist: Jeder kann einfach stehenbleiben, zuschauen, kommentieren, Fragen stellen und kritisieren. So gewinnen wir ein – überraschtes – Publikum, das sich von der Arbeit des Übersetzers und dem Entstehungsprozess eines Textes faszinieren lässt.

Auf diese Art können die Zuhörer den Übersetzungsprozess also hautnah miterleben. Woher kommt die Idee des „Gläsernen Übersetzers“ ursprünglich?

Martina Kempter: Regine Elsässer, eine Kollegin, die aus dem Schwedischen übersetzt, hat diese Idee aus Skandinavien mitgebracht. In Deutschland wurde der „Gläserne Übersetzer“ zum ersten Mal 2005 im Übersetzerzentrum der Frankfurter Buchmesse realisiert. Seitdem ist das Format fester Bestandteil des Messe-Veranstaltungsprogramms – über mehrere Jahre hinweg von zwei Kollegen organisiert, die 2009 übrigens auch unter den Gründungsmitgliedern der Weltlesebühne gewesen sind.

Wählen die teilnehmenden Übersetzer die Texte selbst aus oder schlagen Sie die Texte vor?

Gabriele Leupold: Alle beteiligten Übersetzer wählen die von ihnen präsentierten Texte selbst aus – häufig sind es die, an denen sie gerade arbeiten, oder solche, die ihnen besonders spannende Einsichten für das Publikum zu versprechen scheinen.

Insgesamt werden 32 Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum stattfinden. Darüber hinaus sind Veranstaltungen in 7 Goethe-Instituten, u. a. in Alexandria und Taschkent, geplant. Wie kam es zu diesem breiten Spektrum?

Gabriele Leupold: Weltlesebühne e.V. gehören seit seiner Gründung Übersetzer an, die in verschiedenen Städten leben und arbeiten, und unsere Veranstaltungen finden überall dort statt, wo wir wohnen.

Martina Kempter: Außerdem schlagen wir immer öfter die so genannte „Wanderbühne“ auf, wenn wir zum Beispiel an andere Orte eingeladen werden. Durch Kontakte aus unserer Gruppe ergeben sich immer wieder neue Veranstaltungsideen und Auftrittsorte.

Gabriele Leupold: Wir glauben, dass eine große, zentral geplante Aktion zum Hieronymustag noch einmal verstärkte Aufmerksamkeit für die kulturelle Bedeutung des Übersetzens und die Leistung der Übersetzer wecken kann. Wir freuen uns sehr, dass unser Verein – mit Hilfe großer Förderer wie der Robert-Bosch-Stiftung und dem Goethe-Institut sowie verschiedenster Kooperationspartner vor Ort – die Gestaltung und Umsetzung dieser Aktivitäten übernehmen kann.

Hat sich seit der Premiere der Aktion im Jahr 2014 für Sie etwas verändert?

Martina Kempter: Seit der Premiere unserer Aktion im Jahr 2014 hat sich das Format des „Gläsernen Übersetzers“ in der breiteren Öffentlichkeit etabliert, man kann von einer Erfolgsgeschichte sprechen, an die man bei Übersetzerveranstaltungen vielerorts und auch außerhalb des Hieronymustags gern anknüpft. Wir erleben vor allem nicht nur den guten Publikumszuspruch, sondern auch das anhaltende Interesse unserer verschiedenen Kooperationspartner an dem Format.

Gabriele Leupold: Zugleich ist die durch den „Gläsernen Übersetzer“ geweckte Aufmerksamkeit für den Übersetzungsprozess für uns zu einer Art gutem Sprungbrett für andere Veranstaltungsformen geworden, die teils ebenfalls stark partizipativ sind, wie beispielsweise der Translation-Slam in Hamburg oder das Übersetzen in Zeitraffer und Echtzeit in Berlin. Außerdem wenden wir uns auch mit Workshops an ein jugendliches und studentisches Publikum.

Organisiert werden die Veranstaltungen von Weltlesebühne e.V., einem überregionalen Zusammenschluss von Literaturübersetzer im deutschsprachigen Raum, den Sie im März 2009 mitbegründet haben. Welche Idee stand hinter der Gründung des Vereins?

Gabriele Leupold: Martina Kempter und ich sind seit rund 30 Jahren als Übersetzerinnen tätig. Vor mittlerweile schon acht Jahren haben wir gemeinsam mit anderen Übersetzerkollegen den Verein ins Leben gerufen, um unsere Arbeit der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Weltlesebühne e. V. ermöglicht es uns, das ganze Jahr hindurch Veranstaltungen rund um das Übersetzen zu planen und zu finanzieren. Hinter der Gründung steht zudem die Erfahrung, dass ein breites literaturinteressiertes Publikum den Einblick genießt, den es bei derartigen Veranstaltungen in die Entstehung eines deutschen Textes und damit auch in die Reize und Schwierigkeiten eines aus einer anderen Sprache und Kultur stammenden Originaltextes nehmen kann.

Martina Kempter: Oft steht bei den Zuhörern das Interesse an einem bestimmten Buch im Zentrum, sie kommen zu uns, weil sie mehr über das Buch erfahren möchten. Bei uns erleben sie dann oft die Überraschung, dass hinter dem Text des Buches neben dem Autor auch noch der Übersetzer steht. Der ist dann plötzlich ganz nah, liest vor und gibt bereitwillig Auskunft über seine Arbeit.

Im Rahmen unserer Veranstaltungen veranschaulichen wir den Entstehungsprozess von literarisch anspruchsvollen, interessanten, schönen, ergreifenden, spannenden, unterhaltsamen Büchern. Und wir zeigen den Anteil, den die Übersetzer an ihrer Entstehung haben, vor allem die Spracharbeit, die in den übersetzten Büchern steckt. Dafür möchten wir die Öffentlichkeit sensibilisieren.

Hintergrundinformationen zur Weltlesebühne e.V.

Logo WeltlesebühneZur Förderung einer lebendigen und streitbaren Übersetzungskultur hat sich im März 2009 die Weltlesebühne gegründet – ein loses Netzwerk von Veranstaltungsprojekten aus Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Freiburg, Hamburg, Heidelberg, Leipzig, Köln und Zürich. Der Verein widmet sich der internationalen Literatur sowie ihren häufig unbekannten Co-Autoren: Er möchte den Literaturübersetzern zu mehr Sichtbarkeit verhelfen und ihre Arbeit anschaulich machen.

Regelmäßig organisieren die mehr als 50 Vereinsmitglieder Veranstaltungen rund um das Übersetzen im deutschsprachigen Raum – dabei geht es beispielsweise um die Rolle des Übersetzers als Vermittler zwischen Kulturen und Literaturen oder um unterschiedlichste praktische und handwerkliche Aspekte des Übersetzens.

Die Veranstaltungen finden in verschiedenen Formaten statt: Während sich einige bestimmten Sprachen, Themen oder Genres widmen, werden in anderen Neuübersetzungen von Klassikern diskutiert oder der Dialog in den Mittelpunkt gestellt.

Das Publikum erhält im Rahmen der von Weltlesebühne e.V. organisierten Veranstaltungen spannende Einblicke in Textübertragungen aus allen erdenklichen Sprachen, Epochen und Gattungen. Übersetzer berichten aus ihrer Werkstatt, veranschaulichen den Entstehungsprozess eines Textes und erkunden gemeinsam mit ihren Zuhörern das weite Feld zwischen den Sprachen und Kulturen.

Unter dem Motto „Wanderbühne“ schickt die Weltlesebühne Veranstaltungen und Veranstaltungskonzepte auf die Reise – Ziele sind Literaturfestivals, Übersetzertreffen und Orte des literarischen Lebens im In- und Ausland.

Seit 2011 hat sich unter dem Dach der Weltlesebühne in Berlin zudem eine Gruppe von Übersetzern von Kinder- und Jugendliteratur gefunden, die unter dem Namen „Junge Weltlesebühne“ Lesungen für Kinder und Jugendliche anbietet und organisiert.

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Weiterführender Link

[Text: Katrin Ritte für Weltlesebühne. Quelle: Pressemitteilung Weltlesebühne, 2017-09-13.]

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