Dolmetschen im Medizintourismus – Anforderungen und Erwartungen

Dolmetschen im Medizintourismus
Bild: Narr Francke Attempto, free-photos / Pixabay

Deutschland und Österreich sind aufgrund ihrer medizinischen Standards beliebte Zielländer für internationale Patienten, die nach einer Zweitdiagnose oder einer speziellen medizinischen Behandlung suchen.

Der finanzielle und organisatorische Aufwand medizinischer Reisen führt zu hohen Erwartungen der Patienten an die Behandlung und an alle beteiligten Akteure. In diesem Kontext werden Dolmetscher häufig zu Hauptansprechpartnern der Patienten, die sich an sie mit zusätzlichen organisatorischen Wünschen wenden.

Dr. Katia Iacono lehrt und forscht am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien und ist als Fachübersetzerin und Dolmetscherin tätig. In ihrem jetzt bei Narr Francke Attempto erschienenen Band Dolmetschen im Medizintourismus untersucht sie die Erwartungen und das erweiterte Anforderungsprofil, mit denen Dolmetscher in diesem Bereich konfrontiert sind.

Das Werk richtet sich an Dolmetscher, Ärzte und Vertreter medizinischer Institutionen, die mit Dolmetschern zur Überwindung von Sprachbarrieren zusammenarbeiten.

Medizintourismus gab es schon in der Antike

In ihrer Einleitung schreibt die Autorin:

Der Begriff Medizintourismus beschreibt ein Phänomen, das zwar in seiner derzeitigen Ausprägung jung und wenig erforscht ist, dennoch reicht die Idee bzw. das Konzept, eine medizinische Reise zu unternehmen, weit in die Vergangenheit zurück. So zog bereits im alten Griechenland die Stadt Epidaurus Leidende aus dem Mittelmeerraum an, die im Thermalwasser der heiligen Stätte des Gottes Asklepius Linderung suchten (vgl. Quast 2009:14). Generell waren die PilgerInnenfahrten zu den Asklepieia, ehemaligen wichtigen griechischen Heilstätten, die sowohl über ein Sanatorium als auch über einen Tempel verfügten, sehr beliebt.

Im heiligen Tempel verbrachten die Reisenden mehrere Nächte in der Hoffnung, dass Asklepios ihnen im Traum die richtige Diagnose stellen oder eine erfolgreiche Behandlungsmethode verraten würde. Ebenso beliebt waren die Reisen zu Thermal- und Badeorten (vgl. Quast 2009:14), mit denen eine Linderung verschiedener Krankheiten beabsichtigt wurde. Medizinische Reisen bildeten fortan eine Konstante der Geschichte und wurden aus unterschiedlichen Beweggründen unternommen.

Wirtschaftliche Bedeutung des Medizintourismus

Nach Einschätzung von Katia Iacono hat der Medizintourismus in Österreich und Deutschland das Potenzial, ein weiteres Marktsegment für Dolmetscher zu werden, die im Bereich Medizin arbeiten und die ihr Angebot an translatorischen Dienstleistungen diversifizieren möchten. Sie schreibt:

Schon im Jahr 2006 verzeichnete die weltweite Gesundheits- und Medizintourismusindustrie einen Umsatz von über 60 Milliarden Dollar (vgl. Quast 2009:16). Laut Patients Beyond Borders werden derzeit im Medizintourismus zwischen 74 und 92 Milliarden Dollar erwirtschaftet; 21 bis 26 Millionen PatientInnen aus verschiedenen Ländern geben pro medizinische Reise im Durchschnitt 3.550 Dollar für Untersuchungen, Reise und Transport aus (vgl. PBB 2020).

Die in der medizintouristischen Literatur beschriebenen Reisen können sowohl in Richtung günstigere Länder wie Ungarn oder Thailand als auch in Richtung teurere Regionen wie Europa und USA erfolgen. Ausschlaggebend für die Wahl des Reiseziels ist in erster Linie der Grund der Behandlungsreise.

Unterschiede zum Dolmetschen in anderen medizinischen Settings

Das Dolmetschen für Medizintouristen unterscheidet sich deutlich vom herkömmlichen Krankenhausdolmetschen und geht über die reine Sprachmittlung hinaus, wie Iacono betont:

  • Die Organisation der Reise in ein anderes Land ist mit Mühen und Aufwand verbunden. Oft wird der Dolmetscher bereits zu diesem frühen Zeitpunkt einbezogen.
  • Manche Patienten benötigen schon während der Anreise eine medizinische und sprachmittlerische Betreuung.
  • Der finanzielle und organisatorische Aufwand einer solchen Reise ist hoch. Ebenso hoch sind die Erwartungen der zahlenden Patienten an die Behandlung sowie an das medizinische Personal und nicht zuletzt an die Dolmetscher. Erwartet wird ein Rundum-sorglos-Service.

Umfassende Untersuchung der rechtlichen, wirtschaftlichen und translationswissenschaftlichen Aspekte

Das Forschungsziel der Studie liegt in der Untersuchung des Dolmetschens im Medizintourismus unter Berücksichtigung seiner rechtlichen, wirtschaftlichen und translationswissenschaftlichen Besonderheiten.

  • Aus rechtlicher Sicht werden der rechtliche Rahmen, die Rechte der Patienten sowie die Pflichten der Ärzte beleuchtet.
  • Aus wirtschaftlicher Sicht wird der Medizintourismus als neues Marktsegment für Dolmetscherinnen und Dolmetscher untersucht. Im Fokus steht die Analyse des Angebots an translatorischen und außertranslatorischen Dienstleistungen.
  • Aus translationswissenschaftlicher Perspektive wird das Augenmerk auf den Situationskontext und seine Unterschiede zu anderen medizinischen Settings gelegt – auch hinsichtlich der Bedürfnisse und Erwartungen der Beteiligten sowie der Anforderungen an die Dolmetschenden.

Insbesondere geht Iacono dabei folgenden Fragestellungen nach:

  • Wie sieht das translatorische Betätigungsfeld jener Dolmetscher aus, die in Deutschland und Österreich im Medizintourismus arbeiten? Was ist anders im Vergleich zum klassischen medizinischen Dolmetschen?
  • Welche Erwartungen und Anforderungen werden von Patienten und Ärzten an Dolmetscher im Medizintourismus gestellt? Welche zusätzlichen Kompetenzen benötigen sie dafür (z. B. Managementkompetenzen, unternehmerisches Denken, spezifisch medizintouristisch-institutionelles Wissen)?
  • Inwieweit sind Dolmetscher bereit, diesen Erwartungen und Anforderungen gerecht zu werden? Sind sie bereit, außertranslatorische Aufgaben zu erfüllen und die dazu nötigen Kompetenzen zu erwerben?

Bibliografische Angaben

  • Katia Iacono (2021): Dolmetschen im Medizintourismus – Anforderungen und Erwartungen an DolmetscherInnen in Deutschland und Österreich. Tübingen: Narr Francke Attempto. 360 Seiten, 68,00 Euro, ISBN 978-3-8233-8472-4. Auf Amazon ansehen/bestellen (mit Inhaltsverzeichnis und Blick ins Buch).

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