Deutschlands einziger gehörloser Professor spricht mit leichtem Akzent Englisch

Etwa 250.000 Deutsche sind schwerhörig, rund 80.000 komplett taub. Einer von ihnen ist Prof. Dr. Christian Rathmann (Bild rechts). Er ist Deutschlands erster und bislang einziger gehörloser Professor für Gebärdensprachlinguistik und Gebärdensprachdolmetschen und geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser (IDGS) in Hamburg. Und spricht sogar mit einem leichten Akzent Englisch.

Einerseits wird alles, was Rathmann vorträgt, von zwei Gebärdensprachdolmetschern abwechselnd in die deutsche Lautsprache übertragen, da nicht alle Teilnehmer über ausreichende Kenntnisse der Gebärdensprache verfügen. Andererseits werden auch die Fragen bzw. Antworten der Studenten für den gehörlosen Professor verdolmetscht.

Das Thema einer seiner Vorlesung lautete „Baby Signing“. Dabei bringen hörende Eltern ihrem gehörlosen Kleinkind erste Gebärden bei. „Das ist eine regelrechte Mode geworden“, so der 40-Jährige. Hörende Kinder würden zumeist im Alter von zehn Monaten mit dem Sprechen beginnen. Bei gehörlosen Kleinkindern würden die ersten Gebärden bereits einen Monaten früher gelingen. Merkwürdig daran sei, dass das Erlernen der Deutschen Gebärdensprache (DGS) für gehörlose Kinder immer noch nicht selbstverständlich sei. „Wenn festgestellt wird, dass ein Kind eine Hörschädigung hat, dann geht es erstmal in die Audiotherapie, Logopädie oder es wird mit Hörgeräten oder Hör-Implanaten versorgt, aber die Deutsche Gebärdensprache kommt in der Erstberatung so gut wie nicht vor“, erklärt Christian Rathmann.

Nach wie vor gestalte es sich schwierig, der Gesellschaft zu zeigen, dass die Deutsche Gebärdensprache als vollwertige Sprache eine große Bereicherung für die Sprachentwicklung sowie sprachliche Vielfalt darstellt. Gehörlose stoßen stets auf viele Barrieren, sei es beim Zugang zu Bildung, Medien oder im Arbeitsleben.

Christian Rathmann wurde gehörlos geboren und besuchte in Erfurt eine Gehörlosenschule. Seine Eltern hätten ihn nicht ungewöhnlich gefördert, jedoch mit viel Liebe erzogen, sagt er. Wichtig seien auch seine Geschwister gewesen. Rathmann hat die Gebärdensprache nicht von seinen Eltern oder Lehrern gelernt, sondern von Freunden im Kindergarten. Sie lernten Lippen zu lesen und erfanden Worte, wenn ihnen eins fehlte. Wenn Rathmann sich vorstellt, wogt seine Hand am Kopf entlang wie eine Lockenfrisur. Sein Gebärdenname lautet „Haartolle“. Mit dem Titel „Deutschlands einziger gehörloser Professor“ könne er sich nicht wirklich identifizieren und begründet dies wie folgt: „Es gibt inzwischen gehörlose Juristen, Betriebswirtschaftler, Psychologen und vielerlei mehr.“

Anfang der 90er-Jahre war Rathmann an der Universität Hamburg. Anschließend ging er zum Studieren und Unterrichten in die Vereinigten Staaten von Amerika. Dort entdeckte er eine neue Welt. In Amerika gibt es nämlich die einzige Gehörlosen-Universität weltweit: Die Gallaudet University, die im Jahr 1856 in der Nähe von Washington gegründet wurde. Insbesondere sein Aufenthalt in den USA habe den Grundstein für eine erfolgreiche berufliche Laufbahn gelegt. Innerhalb von zehn Jahren eignete er sich dort die Amerikanische Gebärdensprache (American Sign Language, ASL) an und beherrscht sie nun nahezu perfekt. Wie gesprochenes amerikanisches Englisch ist ASL eine eigene Sprache. „Das Lustige war, dass mir die amerikanischen Gehörlosen immer gesagt haben, ‚Du hast aber auch einen deutschen Akzent'“, berichtet Rathmann. Wie die Lautsprache habe jede Gebärdensprache ihre eigene Grammatik, Intonation und Satzmelodie.

Seit April 2008 leitet Prof. Dr. Christian Rathmann das Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser. Mit rund 30 Mitarbeitern und pro Studienjahr über 30 Bachelor-Studenten sowie einigen Master-Studenten handelt es sich dabei um die größte Forschungseinrichtung für Gebärdensprachen in Deutschland und das einzige eigenständige Institut.

Das momentan größte Vorhaben ist das auf 15 Jahre angelegte DGS-Korpusprojekt. Das Ziel ist die Entstehung eines elektronischen Wörterbuchs, bei dem Wörter in der Deutschen Gebärdensprache konsultiert werden können und umgekehrt. Hierbei sollen die einzelnen Gebärden im Kontext eines natürlichen Gesprächs aufgezeichnet werden. Grundlage dafür sind ca. 600 bis 800 Stunden Videomaterial von Dialogen von 320 Informanten aus dem ganzen Land.

Rathmann ist Forscher mit Leidenschaft. „Aber was mein Leben jetzt angeht, nur weil ich nicht hören kann: Ich lebe eigentlich nicht besonders anders als eine hörende Person. Ich bin ein Augenmensch, mir fallen visuell Dinge schneller ins Auge“.

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[Text: Jessica Antosik. Quelle: welt.de, 05.08.2011; Der Spiegel, Nr. 34, 22.08.2011. Bild: sign-lang.uni-hamburg.de.]