Selma Lagerlöfs „Nils Holgersson“: Großes Buch mangelhaft neu übersetzt

Nils HolgerssonEnde 2014 hat „Die andere Bibliothek“ einen Klassiker der Weltliteratur in neuer Übersetzung herausgebracht: Selma Lagerlöfs „Nils Holgersson“. Das Werk wurde erstmals vollständig übersetzt und mit den Abbildungen von Bertil Lybeck aus der schwedischen Ausgabe von 1931 versehen. Dazu schreibt der Verlag:

Nils Holgersson, ein Klassiker der Weltliteratur und bereits 1906 von der ersten weiblichen Literaturnobelpreisträgerin als Porträt ihres Landes aus der Vogelperspektive verfasst, ist oft ins Deutsche übertragen worden – in den allermeisten Fällen jedoch gekürzt und bearbeitet. Und die wenigsten der Lagerlöf-Leser wissen, dass eine ungekürzte Ausgabe nur schlecht zugänglich ist und eine gelungene Übersetzung bis heute nicht vorliegt.

 

Die neue vollständige Übersetzung von Thomas Steinfeld wird Selma Lagerlöfs Sprache mit ihren Eigentümlichkeiten, dem wunderbaren Schwedisch einer vergangenen Zeit, endlich gerecht.

„Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 in der Kategorie Übersetzung!“, verkündet der Verlag nicht ohne Stolz auf seiner Website.

Literaturkritiker: Anfänger-Übersetzung mit schrägen Formulierungen

Zu einer völlig anderen Einschätzung der Übersetzungsqualität kommt der Journalist und Skandinavist Volker Heigenmooser. „Die neue Übersetzung Thomas Steinfelds ist leider nicht empfehlenswert“, schreibt er in einer ausführlichen und fundierten Kritik für die Website Literaturkritik.de. Und weiter:

[Der Übersetzer] Thomas Steinfeld ist im Hauptberuf Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in Italien, zuvor war er Literaturverantwortlicher und dann Ko-Redaktionsleiter des Feuilletons derselben Zeitung. Zwar schreibt er seit einigen Jahren auch über Themen aus Schweden, doch als Übersetzer der Literatur dieses Landes ist er bisher noch nicht hervorgetreten. Es nimmt folglich nicht wunder, dass er mit der Übersetzung von Selma Lagerlöfs opulentem und sehr anspruchsvollem Werk erkennbar überfordert war. Natürlich sagt es auch etwas über die Wertschätzung des Verlags gegenüber der Leistung von Übersetzerinnen und Übersetzern aus, wenn ein so bedeutendes Werk wie Lagerlöfs Nils Holgersson einem Anfänger überlassen wird. Denn hätte der Verlag diese Aufgabe einem erfahrenen Übersetzer anvertraut, wären viele Ungenauigkeiten und auch Übersetzungsfehler zu vermeiden gewesen.

Die früheren Übersetzungen stammen von Pauline Klaiber-Gottschau (1907), Mathilde Mann, die wahrscheinlich eine „Relais-Übersetzung“ unter Zuhilfenahme der dänischen Ausgabe erstellt hat, und Angelika Kutsch (1991). Gerade die Übersetzung von Kutsch hält Heigenmooser für wesentlich besser als die Neuübersetzung von Steinfeld.

Nils Holgersson
705 Seiten in veralteter Rechtschreibung und historische Illustrationen: Wohl doch eher eine Ausgabe für bibliophile Erwachsene.

Steinfeld habe große Mühe, die Distanz zwischen Ausgangs- und Zielsprache zu überwinden. Das führe „nicht nur gelegentlich zu schrägen Formulierungen im Deutschen“. So gackerten die Hühner bei Steinfeld wie im Schwedischen „ka, ka, ka“, in der früheren Übersetzung von Angelika Kutsch hingegen zutreffend „gack, gack, gack“.

Ein typischer Anfängerfehler ist die nicht leichte Unterscheidung von Maus und Ratte, kann mit dem schwedischen „råtta“ im Deutschen doch sowohl eine Ratte als auch eine Maus gemeint sein. Wenn der in einen Wicht verwandelte Nils Holgersson also in seinem Elternhaus nach dem Wichtel sucht, der ihn verzaubert hat, und dabei hinter Stühle und Schränke sowie in einige „råtthål“ schaut, dann sind das in dem ordentlichen Elternhaus des kleinen Nils ganz bestimmt keine „Rattenlöcher“, sondern Mauselöcher, was alle bisherigen Übersetzerinnen des Werks wussten, Steinfeld aber nicht – ganz davon abgesehen, dass Rattenlöcher im Deutschen eher eine andere Konnotation haben, als die Zugänge zu den Behausungen der entsprechenden Tiere zu bezeichnen.

Der Kritiker kommt zu folgendem Fazit:

Nicht nur in den Details, sondern auch insgesamt in Stil und Ton hat Thomas Steinfeld keine gute Übersetzung von „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“ vorgelegt. Dieses großartige und bedeutende Werk Selma Lagerlöfs hätte jedoch eine solche verdient.

Befremdlich mutet die Entscheidung des Verlags an, die Übersetzung in der nun schon seit 17 Jahren veralteten Rechtschreibung zu veröffentlichen. Wahrscheinlich peilt man als Zielgruppe doch eher bibliophile Erwachsene an.

Bibliografische Informationen

Selma Lagerlöf: Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Thomas Steinfeld. AB – Die andere Bibliothek, Berlin 2014. 704 Seiten, 40,00 Euro, ISBN 9783847703594.

Weiterführende Links

[Text: Richard Schneider. Quelle: literaturkritik.de, 2015-05-07. Bild: Die andere Bibliothek.]