Da fährt man Ende Oktober nichts ahnend zum Gerichtsdolmetschertag nach München, erfreut sich der überaus gelungenen Veranstaltung und muss von einer Kollegin hinter vorgehaltener Hand erfahren, dass man auf eben jener Veranstaltung unerwünscht sei.
Ja, mehr noch: Auf einer Mitgliederversammlung des BDÜ-Bundesverbandes sei schon vor Monaten beschlossen worden, einem die Teilnahme an allen BDÜ-Veranstaltungen grundsätzlich zu verwehren. Ob man davon denn nichts gewusst habe?
Ungläubig fragt man die Kollegin, ob sie das wirklich ernst meine. Schließlich habe man sich für den Gerichtsdolmetschertag schon vor Monaten ordnungsgemäß schriftlich angemeldet und den Beitrag überwiesen, ohne dass einem die Teilnahme verweigert worden sei. Außerdem sei man auf der Veranstaltung von den anwesenden BDÜ-Spitzen ganz normal begrüßt worden – teils gar mit Küsschen links, Küsschen rechts. Auch auf zwei bis drei weiteren BDÜ-Veranstaltungen, die man dieses Jahr besucht habe, sei man keineswegs als Persona non grata behandelt worden.
Genau dieses kafkaeske Erlebnis hatte Dragoslava Gradincevic-Savic, stellvertretende Vorsitzende der ATICOM (Fachverband der Berufsübersetzer und -dolmetscher) und dort u. a. für das Gerichts- und Konferenzdolmetschen zuständig. Die Düsseldorferin war nicht wenig irritiert, denn sie wusste von nichts.
Zwar ist ihr bekannt, dass viele im BDÜ ihr grollen, seit sie sich Mitte der 1990er Jahre als Vorsitzende des BDÜ-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen an der bundesweiten Reformdiskussion beteiligte, die später in persönliche Anfeindungen abglitt und an deren Ende drei Landesverbände aus dem Bundesverband austraten.
Die Abtrünnigen agierten fortan unter eigenem Namen: die ATICOM in Nordrhein-Westfalen, der ADÜ Nord in Hamburg und Schleswig-Holstein und der LBDÜ in Brandenburg. (Letzterer löste sich später auf, ein Großteil der Mitglieder trat dem VÜD bei.)
All das ist acht Jahre her und seitdem war Draga, wie sie von ihren Freunden genannt wird, ein braves Mädchen. Warum sollte der BDÜ sie jetzt von seinen Veranstaltungen ausschließen? Also bittet Gradincevic-Savic die BDÜ-Präsidentin Barbara Böer Alves um Aufklärung.
Diese bestätigt, dass der 1997 vom BDÜ neu gegründete Landesverband Nordrhein-Westfalen (LV NRW) im Oktober 2003 einen entsprechenden Antrag überraschend auf einer außerordentlichen BDÜ-Mitgliederversammlung in Mainz eingebracht habe: „Ich war nicht glücklich über den Beschlussantrag, aber da die Mitgliederversammlung und nicht ich der höchste Souverän unseres Verbandes ist, hatte ich auch keine Möglichkeit, diesen Antrag zu verhindern.“ Der Antrag hatte folgenden Wortlaut:
Austritt des LV NRW e.V. aus dem BDÜ im Jahr 1996: Verhältnis des BDÜ zum verantwortlichen Personenkreis
1. Es wird festgestellt, dass die Personen, die im Jahre 1996 führend und in verantwortlicher Position handelnd, die Vorbereitung und Durchführung des Austritts des damaligen LV NRW aus dem BDÜ betrieben haben, auf sämtlichen Veranstaltungen und Versammlungen des BDÜ unerwünscht sind.
2. Der BV [Bundesvorstand] wird beauftragt, juristisch prüfen zu lassen, ob den unter Punkt 1 definierten Personen eine von ihnen eventuell begehrte Aufnahme in den BDÜ (durch die Aufnahme in einen der Landesverbände bzw. in den Verband der Konferenzdolmetscher des BDÜ) dauerhaft verweigert werden kann.
Der Antrag wurde von Josef Sobieszek, damals 2. Vorsitzender des LV NRW, ad hoc eingebracht – im Auftrag des verhinderten 1. Vorsitzenden, Christopher McPartlin, unter dessen Führung der Landesverband ab 1997 neu aufgebaut worden war. Der Antrag wurde mit 144 Ja-Stimmen, 24 Enthaltungen und ohne Gegenstimmen angenommen. (Die BDÜ-Mitgliedsverbände verfügen gemäß ihrer Mitgliederzahl über eine unterschiedlich hohe Anzahl von Stimmen.)
Der Verband der Konferenzdolmetscher (VKD) durfte zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit abstimmen, da seine Aufnahme in den BDÜ erst unter einem späteren Tagesordnungspunkt beschlossen wurde. Die damalige Bundesreferentin für Konferenzdolmetscher, Ulla von Kunhardt, ließ jedoch zu Protokoll geben, dass ihr Verband mit Nein gestimmt hätte.
Die im Antrag unter Punkt 2 verlangte juristische Prüfung ergab später, dass es nicht möglich ist, ohne Namensnennung einem diffus umrissenen Personenkreis den Eintritt in den BDÜ zu verwehren. Andererseits ist ein solcher Beschluss aber gar nicht notwendig, da alle Mitgliedsverbände rechtlich vollkommen unabhängig sind und aufnehmen bzw. ablehnen können, wen sie wollen. Einen Rechtsanspruch auf Aufnahme gibt es nicht.
Von dem Vorstoß des LV NRW entfaltet also nur Punkt 1 eine Wirkung, die mit großer Mehrheit angenommene Feststellung, „dass die Personen, die im Jahre 1996 […] die Vorbereitung und Durchführung des Austritts […] betrieben haben, auf sämtlichen Veranstaltungen und Versammlungen des BDÜ unerwünscht sind“.
Warum aber werden sieben Jahre nach den Austritten die damaligen Führungskräfte derart abgestraft? Immerhin ist inzwischen einigermaßen Gras über die Sache gewachsen. Zwischen den Nachfolgeverbänden (ADÜ Nord, ATICOM) und dem BDÜ hat sich eine fruchtbare Kooperation in Sachfragen (z.B. JVEG) und bei Veranstaltungen entwickelt.
Und warum ist nur das frühere Führungspersonal von Rhein und Ruhr (das auch heute noch im ATICOM-Vorstand vertreten ist) betroffen, nicht aber die Kollegen von der Waterkant? Immerhin sind die Bundesländer Hamburg und Schleswig-Holstein seit dem Austritt der Nordlichter BDÜ-freie Zonen.
Fragen über Fragen. Der jetzige 1. Vorsitzende des LV NRW, Josef Sobieszek, sieht dennoch keinen „Rechtfertigungs- bzw. Beschwichtigungsbedarf“. In einem Schreiben an die BDÜ-Präsidentin erklärt er:
Dieser Antrag wurde unserseits auf Grund von Umständen eingebracht, die im Zusammenhang mit den internen Vorgängen im BDÜ eingetreten und uns kurz vor der Mitgliederversammlung in Mainz zur Kenntnis gelangt sind. Keinesfalls war es aber ein „nicht lange genug bedachter“ Antrag. Vielmehr bestand u. E. wegen der aktuellen Ereignisse Gefahr im Verzuge, die uns zu diesem Schritt veranlasst hat. Es galt, eine „akute“ Gefahr von unserem Verband abzuwenden.
Gefahr im Verzug? Was war geschehen? Sobieszek in einem Fax an den ATICOM-Vorsitzenden Reiner Heard:
Der Antrag war motiviert durch die Tatsache, dass verschiedene Personen, die bei der Spaltung des BDÜ in 1996 eine führende Rolle gespielt haben – und darunter tatsächlich auch Frau Gradincevic-Savic – in jüngerer Zeit verschiedentlich auf Veranstaltungen des BDÜ oder von Mitgliedsverbänden des BDÜ auftraten, ohne jemals ein selbstkritisches Wort über ihre frühere, zweifelhafte Rolle im BDÜ verloren zu haben.
Des Weiteren soll sich eine dieser Personen (um Missverständnissen vorzubeugen sei hier vorsorglich angemerkt, dass es sich hierbei nicht um Frau Gradincevic-Savic handelte) bereits im Jahre 2003 nach einer Aufnahme in einen Landesverband des BDÜ erkundigt bzw. um eine solche ersucht haben.
Tatsächlich nahm Dragoslava Gradincevic-Savic Anfang Juli 2003 in Berlin an einem Treffen der BDÜ-Berufsgruppe der Konferenzdolmetscher (KD) teil. Als ATICOM-Ressortleiterin für Konferenzdolmetscher war sie, wie viele andere Gäste auch, zu der Versammlung eingeladen worden. Auf der dreitägigen Veranstaltung wurde der Verband der Konferenzdolmetscher (VKD) offiziell gegründet, der drei Monate später dann als Mitgliedsverband dem BDÜ beitrat.
Und tatsächlich wurde Gradincevic-Savic gebeten, in den VKD einzutreten, zumal ihre Arbeitssprachen dort noch nicht vertreten waren und man offenbar ihre exzellenten Kontakte für den neuen Verband nutzen wollte. (Gradincevic-Savic arbeitet als Konferenzdolmetscherin viel für Bundesministerien.)
Dragoslava Gradincevic-Savic erzählt: „Als neutrale Person habe ich bei den Vorstandswahlen als Stimmenzählerin fungiert, deshalb taucht mein Name im Protokoll der Versammlung auf.“ Ein Protokoll, das auch an Rhein und Ruhr aufmerksam studiert worden sein muss …
Daraufhin gab der BDÜ-LV NRW Alarmstufe Rot aus. „Draga ante portas!“, hieß es in Erkrath und Wuppertal. Man fürchtete, dass das Düsseldorfer Energiebündel über eine Mitgliedschaft im VKD wieder in den BDÜ gelangen und den Verband erneut aus den Angeln heben könnte.
Doch diese Furcht scheint unbegründet. Jedenfalls beteuert die Verfemte: „Eine erneute Mitgliedschaft im BDÜ ist für mich nicht erstrebenswert. Meine berufsständischen Interessen werden durch die ATICOM bestens vertreten.“
Inzwischen bemüht sich LV-NRW-Chef Josef Sobieszek um Schadensbegrenzung und bekundet gegenüber der BDÜ-Präsidentin das Interesse seines Verbandes an einer Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der ATICOM:
Wir sind als NRW-Landesverband des BDÜ stets darauf bedacht, einen guten Kontakt mit den Mitgliedern der ATICOM zu halten, sind sehr erfreut über deren Teilnahme an den von uns organisierten Veranstaltungen, und wir haben keinen einzigen Gedanken darauf verschwendet, die Mitglieder der ATICOM auf irgendwelche Differenzen zwischen deren „Führungs-“ oder besser gesagt „Gründungskräften“ und dem BDÜ hinzuweisen. Es ist bedauerlich, dass einzelne Personen – die ausschließlich unser Beschluss betrifft –, die ATICOM als Schutzschild missbrauchen, gleichzeitig aber ihre „beruflich bedingte Verbandsheimat“ beim BDÜ suchen.
Der Antrag des LV NRW ist demnach rein personenbezogen und wird nicht mit etwaigen sachlichen oder fachlichen Differenzen begründet. Erstaunlicherweise hielt man es aber nicht für nötig, die Betroffenen darüber zu informieren, dass sie fortan unerwünscht sind.
Der Vorsitzende des LV Bayern, Francisco Ludovice-Moreira, unterstützt das Vorgehen des LV NRW nicht. Er betont, sein Landesverband sei daran interessiert, die Vergangenheit zu bewältigen, auch wenn er sie nicht vergesse. Über die Anwesenheit von Frau Gradincevic-Savic auf dem Gerichtsdolmetschertag in München habe er sich gefreut und er hoffe, dass sich die Beziehungen zwischen dem BDÜ und der ATICOM weiterhin positiv entwickelten.
So oder so ähnlich sehen es offenbar viele Mitgliedsverbände und Bundesvorstandsmitglieder des BDÜ. Sie betrachten den Antrag, der vor einem Jahr in Mainz auf erheblichen Druck des LV NRW überhastet und unbedacht angenommen wurde, als unwirksam und Schnee von gestern.
Für Außenstehende bleibt allerdings ein Rätsel, wie das Abstimmungsverhältnis von 144 Ja-Stimmen und 24 Enthaltungen zustandekommen konnte. Warum hat man die vom LV NRW gelegte Bombe nicht einfach dadurch entschärft, dass man mehrheitlich mit Nein stimmte?
Da dies nicht geschah, entwickelte sich jetzt nach Bekanntwerden des Beschlusses in den Führungszirkeln von BDÜ und ATICOM ein – wie die BDÜ-Präsidentin formulierte – „allerhöchst überflüssiger Diskurs“, dessen Ursache allerdings der nicht minder überflüssige Antrag des LV NRW ist.
Immerhin scheinen die meisten Akteure aus den Querelen der 1990er Jahre gelernt zu haben. Barbara Böer Alves (BDÜ-Präsidentin) und Francisco Ludovice-Moreira (LV Bayern) gaben Dragoslava Gradincevic-Savic (ATICOM) bereitwillig Auskunft, distanzierten sich von dem Beschluss der Mitgliederversammlung und bemühten sich redlich, die Wogen der Empörung zu glätten.
Gradincevic-Savic räumte ihrerseits hinsichtlich ihres Engagements in den 90ern gegenüber Böer Alves ein: „Natürlich bin auch ich in der Zwischenzeit klüger geworden und manches würde auch ich heute anders machen.“ Eine Äußerung, die wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde.
Die BDÜ-Präsidentin gab aber zu bedenken: „Allerdings ist das Gedächtnis eines Kollektivs oft eher das eines Elefanten. Eine ablehnende Haltung könnte Ihnen daher noch öfter begegnen. Das kann man nicht verhindern. Man braucht viel Geduld, um eigene Fehler vergessen zu machen.“ Wobei zu ergänzen bleibt, dass auch die Fehler des damaligen BDÜ-Bundesvorstandes nach wie vor unvergessen sind.
An der Turmuhr des Saarbrücker Rathauses steht der Spruch „Die Zeit eilt, die Zeit heilt“. Leider gilt dies offenbar nicht für einige BDÜ-Amtsträger in Nordrhein-Westfalen. Dem dortigen Landesverband kann man nur empfehlen, endlich aus dem Schützengraben herauszusteigen und den Stahlhelm an den Nagel zu hängen – zumal das Ende 2003 in Mainz unnötig ausgelöste Sperrfeuer wirkungslos verpufft ist.
Es wäre für den LV NRW besser, sich künftig durch Sacharbeit statt durch die Verteufelung anderer zu profilieren. Gerade der von dem Beschluss betroffene Personenkreis zeigt, wie es geht. Die meisten der vor acht Jahren in Nordrhein-Westfalen aktiven Kolleginnen und Kollegen engagieren sich nach wie vor an prominenter Stelle für unsere Berufsgruppe. Den BDÜ brauchen sie dafür nicht. Sie schätzen ihn aber inzwischen als Kooperationspartner. Und darüber sollte man doch eigentlich froh sein.
Richard Schneider