Nürnberger Prozesse: Nach 65 Jahren Gedenkstätte eingerichtet

Auf den Tag genau vor 65 Jahren, am 20. November 1945, begannen die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse – ein Meilenstein in der Geschichte des Völkerrechts und des Simultandolmetschens.

Aus diesem Anlass wird morgen im Nürnberger Justizpalast im Dachgeschoss schräg über dem weltweit bekannten Schwurgerichtssaal 600 eine Gedenkstätte eingeweiht, das „Memorium Nürnberger Prozesse“. Es soll auf 750 Quadratmetern über die Vorgeschichte, den Verlauf und die Folgen der Nürnberger Prozesse informieren.

Die Stadt reagiert damit auf die stetig steigende Besucherzahl. Schon jetzt kamen jedes Jahr durchschnittlich 20.000 Interessierte zur Besichtigung, viele weitere mussten abgewiesen werden. Denn der Saal wird unter der Woche nach wie vor für Gerichtsverfahren genutzt. Außerdem gab es bislang eigentlich nichts zu besichtigen. Die Einrichtung des historischen Gerichtssaals war von der Nürnberger Justiz bereits in den 1960er Jahren demontiert und vernichtet worden.

Die Badische Zeitung schreibt dazu:

Anfang 1960 hatte die alliierte Militärverwaltung den Raum an die bayerische Justiz zurückgegeben. Und die war nun peinlich darauf bedacht, die Spuren der Nürnberger Prozesse zu beseitigen.

„Wir haben alles weggebracht und verbrannt,“ erinnert sich Schreinermeister Heinrich von Gemünden, 92, an die Aufräumarbeiten vor 50 Jahren. […] Richterbänke, Dolmetscherkabine, Stehpulte und Tribünenaufbauten warf er auf den Müllhaufen der Geschichte.

„Zerstörung eines welthistorischen Objekts“, nennt der Nürnberger Historiker Alexander Schmidt den Rückbau des Gerichtssaals 600. Die Filmaufnahmen der Hauptkriegsverbrecherprozesse hatten den Raum weltberühmt gemacht, die Bilder der Angeklagten mit den Sonnenbrillen und der Richter vor der verdunkelten Fensterwand sind bis heute auf den Fernsehschirmen präsent. Als am 13. Juni 1960 der erste deutsche Strafprozess im Saal 600 stattfand, sah es dort noch genauso aus wie am Ende der Kriegsverbrecherprozesse 1949. Ein Bild aus den „Nürnberger Nachrichten“ macht deutlich, wie wenig die Amerikaner in der Folge verändert hatten. Es ist das letzte fotografische Zeugnis der fahrlässig entsorgten Einrichtung.

„Platzbedarf“, so lautete die offizielle Begründung der bayerischen Justiz für die radikale Umgestaltung des historischen Raumes. Doch es ging auch darum, die Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus und die Justiz der Alliierten auszulöschen. „Der Schwurgerichtssaal soll wieder eine würdige Gerichtsstätte werden und kein Sensationsanziehungspunkt für Ausländer sein“, verleiht ein lokaler Berichterstatter im Frühjahr 1961 dem Zeitgeist Ausdruck.

Zur Eröffnung des kleinen Museums oberhalb des historischen Sitzungssaals werden hochrangige Gäste wie u. a. der deutsche Außenminister Guido Westerwelle, der russische Außenminister Sergej Lawrow und der Zeitzeuge Benjamin Ferencz erwartet. Weitere Informationen über das Veranstaltungsprogramm zur Eröffnung des „Memorium Nürnberger Prozesse“ finden Sie in dieser Pdf-Datei.

Erste große Bewährungsprobe des modernen Simultandolmetschens

Die Nürnberger Prozesse waren nicht die Geburtsstunde (diese liegt in den 1920er Jahren), aber die erste große Bewährungsprobe des Simultandolmetschens. Das bis zu diesem Zeitpunkt meist übliche Konsekutivdolmetschen hätte das Gerichtsverfahren unvorstellbar verzögert und wäre für alle Prozessbeteiligten unzumutbar gewesen. Die bei den Prozessen eingesetzte Simultandolmetschanlage, damals auch „Speech Translator“ genannt, wurde von IBM zur Verfügung gestellt. Die Anlage war bereits zwanzig Jahre alt, sodass oftmals technische Probleme aufkamen.

Die Dolmetschkabinen waren verglast, nach oben und hinten offen und somit nicht schalldicht. Die Dolmetscher konnten ihrem Redner über verschiedenfarbige Lampen signalisieren, langsamer oder deutlicher zu sprechen, eine Passage zu wiederholen oder eine Rede zu unterbrechen. Die vier Arbeitssprachen waren Englisch, Französisch, Russisch und Deutsch. Insgesamt waren 350 Dolmetscher im Einsatz, die meisten davon nicht im Gerichtssaal, sondern im Vorfeld der Prozesse bei der Vernehmung der Angeklagten im Gefängnis hinter dem Gerichtsgebäude und bei der Zeugenbefragung.

Am 30.11.2010 findet in Zusammenarbeit mit dem BDÜ und unter der Leitung von Dr. Theodoros Radisoglou im Sitzungssaal 600 eine Veranstaltung mit dem Simultandolmetscher Siegfried Ramler statt. Der gebürtiger Wiener ist einer der letzten Zeitzeugen der Nürnberger Prozesse. Er war der zuständige Dolmetscher von Hermann Göring, dem Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg. Einen Teil seines Wissens, seiner Erlebnisse und Erfahrungen hat er in dem Buch Die Nürnberger Prozesse: Erinnerungen des Simultandolmetschers Siegfried Ramler festgehalten.

Geburtsstunde des Völkerstrafrechts

In der ersten Runde der Nürnberger Prozesse waren 24 hochrangige nationalsozialistische Minister, Funktionäre und Militärführer angeklagt. Sie mussten sich in vier Punkten verantworten: Verschwörung, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 12 der 24 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, sieben erhielten langjährige bzw. lebenslange Freiheitsstrafen und drei wurden freigesprochen.

Anschließend fanden im Schwurgerichtssaal 600 bis 1949 zwölf Nachfolgeprozesse statt, bei denen unter anderem Ärzten und Industriellen der Prozess gemacht wurde. Das internationale Gericht setzte dabei Maßstäbe für die strafrechtliche Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Somit liegen die Wurzeln des Völkerstrafrechts sowie des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag in den Nürnberger Prozessen.

Saal 600
Der für die Kriegsverbrecherprozesse umgebaute Schwurgerichtssaal 600 am 30.09.1946: Auf der linken Seite vor den Wachsoldaten die beiden Reihen mit Angeklagten. An der hinteren Wand links die vier offenen Dolmetschkabinen, in der Mitte hinten der Zeugenstand, im Vordergrund das Pult für die Vertreter der Anklage bzw. Verteidigung, auf dem oben rechts gut die beiden Glühbirnen (eine gelbe und eine rote) zu erkennen sind, über die die Dolmetscher den Rednern anzeigen konnten, langsamer zu sprechen bzw. darauf aufmerksam machten, dass die Simultantechnik gerade ausgefallen war, was häufiger vorkam. Auf der rechten Seite das Podium mit den Richtern. Das Foto wurde von der oberen Pressetribüne aus geschossen.
Dolmetschkabinen
Die vier offenen Dolmetschkabinen für die Verhandlungssprachen Englisch (vorne rechts), Russisch (vorne links), Französisch (hinten rechts) und Deutsch (hinten links). Deutlich zu erkennen ist, dass jede Kabine mit drei Dolmetschern besetzt war und dass den deutschen Dolmetschern die schlechtesten Plätze zugewiesen wurden.
Dolmetschteam
Eines der dreiköpfigen Dolmetschteams im Einsatz. Jeder hat einen Kopfhörer und ein Glas Wasser, aber es gibt nur ein Mikrofon und ein Dolmetschpult. Für das Simultandolmetschen im Gerichtssaal standen pro Sprache drei Dreierteams zur Verfügung, die sich abwechselten.
Pressetribünen
Ein Farbfoto aus dem Jahr 1945 zeigt den historischen Gerichtssaal. Im Hintergrund die beiden Pressetribünen, für die eine Wand eingerissen worden war. In der rechten hinteren Ecke ist das Pult der Tontechniker zu erkennen.
Modell Gerichtssaal
Die Amerikaner bei der Planung für die Herrichtung des größten Saales im Nürnberger Justizpalast für die Prozesse: im Vordergrund die Pressetribünen, auf der rechten Seite vor den Fenstern die Richterbank.
Umbau Gerichtssaal
Ein Bild aus dem Jahr 1945 zeigt, dass die Umbauarbeiten für die Prozesse schon weit fortgeschritten sind.
Schwurgerichtssaal 600 im Jahr 2010
Der Schwurgerichtssaal 600 wie er sich heute präsentiert. Lediglich die Wandvertäfelung und die Türeinfassungen lassen erahnen, dass es sich um denselben Raum handelt. Die Nürnberger Justiz hatte Mitte der 1960er Jahre die gesamte Einrichtung vernichtet und den Saal komplett umgebaut. Erst ein halbes Jahrhundert später konnte sie dazu bewegt werden, eine Erinnerungsstätte unterm Dach einzurichten.
Memorium
Im Dachgeschoss schräg oberhalb des Gerichtssaals 600, der rechts hinten zu erkennen ist, wird unter dem Titel „Memorium Nürnberger Prozesse“ eine Dauerausstellung mit Bild- und Texttafeln eingerichtet. Die wenigen Originalexponate kann man an einer Hand abzählen, denn die gesamte Einrichtung des Saals hatte die Nürnberger Justiz in den 1960er Jahren demontieren und verbrennen lassen.

Weiterführende Links

2010-11-13: Zeitungsartikel über die Vernichtung der Originaleinrichtung des Saals in den 1960er Jahren
2010-06-10: Simultandolmetschen in Erstbewährung: Der Nürnberger Prozess 1945
2008-01-28: Der Schwurgerichtssaal 600: Vom Welt-Gericht zum Erinnerungsort (sehr ausführlicher Artikel der bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit)
2005-12-10: Der Dolmetscher – Richard Sonnenfeldt und der Nürnberger Prozess
2005-11-20: 60. Jahrestag der Nürnberger Prozesse. Geburtsstunde des Simultandolmetschens

www.memorium-nuernberg.de

Video: Originalaufnahmen Nürnberger Prozesse (auf Deutsch)
Video: Twenty-one Nazi Chiefs Guilty, 1946/10/08 (auf Englisch)

Videos in englischer Sprache über den Dolmetscher Siegfried Ramler und die Nürnberger Prozesse auf YouTube:

[Text: Jessica Antosik, Richard Schneider. Quelle: Badische Nachrichten, 2010-11-13; museen der stadt nürnberg; wiener-bildung.at; welt.de; archive.org; wikipedia.de; YouTube.com. Bilder: Pressematerial der museen der stadt nürnberg zur Eröffnung des Memoriums.]