Sütterlin: Die (nahezu) vergessene Schrift

Die Sütterlinschrift wurde Anfang des 20. Jahrhunderts im Auftrag des preußischen Kultur- und Schulministeriums von Ludwig Sütterlin entwickelt. Sie sollte das Schreibenlernen erleichtern. Um 1920 wurde die Sütterlinschrift zunächst in Preußen eingeführt, später auch in anderen deutschen Ländern als verbindliche Schreibschrift. So begann sie, die deutsche Kurrentschrift abzulösen. Im Jahre 1935 wurde sie in abgewandelter Form (leichte Schräglage, weniger Rundformen) als „Deutsche Volksschrift“ Teil des Lehrplans.

Mit dem Schrifterlass wurde jedoch auch sie mit einem Rundschreiben vom 1. September 1941 verboten, nachdem bereits mit Schreiben von Martin Bormann, Kanzleichef der NSDAP, vom 3. Januar 1941 die Verwendung gebrochener Druckschriften untersagt worden war. Stattdessen sollte ab dem Schuljahr 1941/42 nur noch eine lateinische Schreibschrift, die neue „Deutsche Normalschrift“, unterrichtet werden. An westdeutschen Schulen wurde nach 1945 außer der lateinischen Ausgangsschrift die deutsche Schreibschrift teilweise bis in die 1970er Jahre zusätzlich gelehrt.


Schulheft von 1929 mit Schreibübungen in deutscher Sütterlinschrift

Heutzutage können die meisten jungen Leute die Sütterlinschrift nicht mehr lesen. Nun bieten sich inmer mehr Senioren, die die Schrift gelernt haben, als Übersetzer für Sütterlin an – wie zum Beispiel Marianne Geisel. Auf diese Weise lernen die Jungen von den Älteren. Die 80-Jährige hat den Brief eines Mannes für dessen Nachkommen übersetzt, da diese kein Wort entziffern konnten, und erzählt: „Das war schon arg schön. Solche innigen Worte werden heute ja nur noch selten benutzt.“

Es ist oftmals der Fall, dass wenn die Vorfahren verstorben sind, die Nachkommen Dokumente in Sütterlinschrift finden. Viele emotionale Texte seien durch Geisels Hände gegangen. Besonders traurig sei ein Kriegstagebuch gewesen, das ein Mann mitbrachte und mit dem er die Stationen seines Vaters im Ersten Weltkrieg nachverfolgen wollte.

Bei besonders unleserlichen Schriften bitten sich die Sütterlin-Übersetzer gegenseitig um Hilfe. Insbesondere die Großbuchstaben bereiten ab und an Schwierigkeiten, so Geisel. Manchmal sei eine Schrift so unleserlich, dass die Worte nur aus dem Kontext entschlüsseln werden können.

Als Geisel im Jahr 1939 in Baden-Württemberg in die Schule kam, schrieb man dort in Sütterlinschrift. Ihr Bruder, der zwei Jahre später eingeschult wurde, lernte nicht mehr Sütterlin. „Meine Mutter und ich haben uns in Sütterlin Zettel geschrieben, auf denen stand, wo der Speisekammerschlüssel versteckt war“, berichtet Geisel mit einem Schmunzeln. Der Grund: Lebensmittel waren in jener Zeit knapp und der kleine Bruder hatte immer Hunger.

Marianne Geisel, Übersetzerin der fast vergessenen Schrift, geht das Thema um Sütterlin ganz pragmatisch an: „Sütterlin ist Vergangenheit. Wir schreiben heute alle Latein und das ist auch gut so“, sagt sie. Was man aber pflegen sollte, sei die deutsche Sprache, findet die 80-Jährige: „Meine Generation ärgert es, dass heute Denglisch gesprochen wird. Ein Flyer zum Beispiel ist einfach ein Faltblatt.“

[Text: Jessica Antosik. Quelle: wz-newsline.de, 19.12.2012; wikipedia.de. Bild: Andreas Praefcke, Lizenz: PD.]