Der Afrikalinguist Gerald Heusing ist vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag in eine unabhängige Expertenkommission zur Schaffung einer Rechtsterminologie für das Acholi berufen worden, das in Uganda von ungefähr 800.000 Menschen als erste Sprache gesprochen wird.
Der IStGH hat am 29. Juli 2004 Ermittlungen zu Fällen in der Republik Uganda aufgenommen. Die Fälle beziehen sich auf einen Konflikt, der die Zivilbevölkerung des nördlichen Landesteiles seit 1986 terrorisiert. Dort formierte sich nach der Machtübernahme des amtierenden Staatspräsidenten Yoweri Kabuta Museveni die paramilitärische „Lord’s Resistance Army“ (LRA). Die LRA kämpft unter der Führung von Joseph Kony gegen die Regierung und für die Errichtung eines fundamentalistisch-christlichen Gottesstaates.
Mitglieder der LRA werden für schwerste Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht. Nach Berichten, die dem Chefankläger des Gerichtshofes, Luis Moreno-Ocampo, vorliegen, handelt es sich dabei um Massenexekutionen, Folter und Verstümmelung, Rekrutierung von Kindersoldaten, sexueller Missbrauch von Kindern, Vergewaltigung, Vertreibung sowie Plünderung und Zerstörung privaten Eigentums. Schätzungen zufolge töteten Mitglieder der LRA inzwischen mehr als 100.000 Menschen.
Die LRA rekrutiert ihre Kombattanden größtenteils aus entführten Dorfbewohnern. Insbesondere sind Kinder im Alter zwischen 11 und 15 Jahren betroffen. Vereinzelt wird von noch jüngeren Entführten berichtet. Laut dem IStGH vorliegenden Berichten sind 85 % der Kombattanden Kinder, die als Soldaten, Träger und Arbeiter sowie im Fall von Mädchen als Sexsklaven missbraucht werden. Die Gesamtzahl der seit 1986 entführten Kinder wird mit 20.000 angegeben. Im Zuge von Initiationsriten werden die Kinder zu Ritualmorden und Verstümmelungen gezwungen.
Opfer sind vermutete Regierungssympathisanten, darunter auch eigene Verwandte.
Inzwischen sind drei Viertel der Acholi-Bevölkerung der nordugandischen Distrikte Gulu und Kitgum auf der Flucht vor der LRA. Viele von ihnen leben seit Jahren in Flüchtlingslagern. Im Juni 2005 wurden vom Chefankläger des IStGH Haftbefehle gegen Joseph Kony und weitere Anführer der LRA erlassen.
Neben dem Leipziger Afrikalinguisten gehören der Expertenkommission zwei Muttersprachler des Acholi an, darunter ein Jurist. Seit Aufnahme der Ermittlungen sind große Mengen von Dokumenten von Muttersprachlern in das Acholi übersetzt worden. Da die Übersetzer keine entsprechende formale Ausbildung genossen haben und es keinen standardisierten Wortschatz, keine spezielle Rechtsterminologie und keine gültige Orthographie für das Acholi gibt, handelt es sich um Ad-hoc-Übersetzungen, mit entsprechenden Inkonsistenzen, Unverständlichkeiten und Ambiguitäten. Es zeigt sich hier exemplarisch und sehr anschaulich, welche negativen Folgen die Diskriminierung afrikanischer Sprachen (meist zugunsten der ehemaligen Kolonialsprachen) nach sich ziehen.
Aufgabe der Kommission ist es, rechtswissenschaftliche Schlüsseltermini in den bisher übersetzten Dokumenten zu identifizieren und dem IStGH für diese verständliche und eindeutige Äquivalenzen für das Acholi vorzuschlagen. Das Gesamtprojekt „Acholi Rechtsterminologie“ wird von der Terminologin der Übersetzungsabteilung des Sekretariats des Gerichtshofes, Anne Aboh-Dauvergne, koordiniert. Die standardisierte Rechtsterminologie soll in Zukunft von Übersetzern, Dolmetschern und Juristen des IStGH benutzt werden.
Gerald Heusing beschäftigt sich seit 1997 mit dem Acholi und verwandten Sprachen, die unter dem Begriff Süd-Lwoo subsumiert werden. Unter den diesbezüglichen Publikationen ist vor allem seine 2004 veröffentlichte Habilitationsschrift Die südlichen Lwoo-Sprachen: Beschreibung, Vergleich und Rekonstruktion zu nennen. Er hat sich in den Jahren 1996 bis 2003 insgesamt sieben Mal meist längerfristig als Feldforscher, DAAD-Dozent und Wahlbeobachter des Auswärtigen Amtes in Uganda aufgehalten. Seine bisher letzte Reise nach Uganda war eine Exkursion mit zehn Leipziger Studierenden der Afrikanistik, aus der 2005 eine Publikation mit wissenschaftlichen Beiträgen der Exkursionsteilnehmer hervorgegangen ist (Aspekte der linguistischen und kulturellen Komplexität Ugandas).
Zum jetzigen Zeitpunkt darf die Expertenkommission nicht öffentlich über Details ihrer Arbeit berichten. Nach Aussetzung dieses Verbots wird aber mit einer wissenschaftlichen Auswertung der vorgeschlagenen Rechtsterminologie zu rechnen sein.
Von besonderem Interesse für Gerald Heusing wird dabei die Frage der Lehnwortnutzung sein, da er sich in einem aktuellen Forschungsprojekt „Lehnwörter im Alur“ (einer weiteren Süd-Lwoo-Sprache) mit diesem Thema auseinandersetzt. Dieses Projekt ist Teil des vom Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie geleiteten globalen Forschungsprojektes „Lehnworttypologie“.
Dieser Artikel erschien zuerst in: Journal, Mitteilungen und Berichte für die Angehörigen und Freunde der Universität Leipzig, Heft 1/2006, Seite 29. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Journal-Redaktion.
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