In einem Artikel auf der Website der Deutschen Welle heißt es über eine Schriftstellerin: „Sylvia Kabus fühlt sich verloren, als sie mit 18 aus dem überschaubaren Görlitz nach Ost-Berlin zieht. […] Eigentlich wäre sie gerne Dolmetscherin geworden, doch ohne Parteibuch war der Zugang zu diesem Studiengang verwehrt.“
Stimmt diese Aussage? Musste man fürs Sprachmittlerstudium in der Partei sein? Wir haben in der Mailingliste U-Forum nachgefragt. Das seit 1993 bestehende Online-Diskussionsforum für Übersetzer hat rund fünfhundert Teilnehmer, darunter auch viele, die in der DDR studiert haben.
Birgit Strauß, Bielefeld, Diplom-Sprachmittlerin Russisch, Slowakisch, Tschechisch, www.uebersetzungsservice.de:
Also da muss ich vehement widersprechen: Ich stamme auch aus Görlitz, ich habe auch Diplom-Sprachmittlerin studiert und ich hatte kein Parteibuch und werde auch nie eins irgendeiner Partei haben.
Man musste einen harten Eignungstest überstehen, aber ich war vorher in einer Schule mit erweitertem Russischunterricht und wir hatten schon damals (ich habe 1978 mit dem Studium begonnen) ein Sprachkabinett. Wir konnten also schon in der Schule das Dolmetschen in der Kabine üben.
Es sind nur wenige genommen worden. Aber auch Westverwandtschaft war kein Hindernis. Das hat lediglich bei der Zuteilung der Sprachen eine Rolle gespielt. Ich konnte mir meine Sprachen nicht aussuchen. Damals war ich kreuzunglücklich, mittlerweile ist das so in Ordnung.
Klar hatten wir Unterricht in Marximus-Leninismus, politischer Ökonomie usw. Aber wir waren ja alle intelligente, denkende Menschen und haben uns selbst unser Bild gemacht.
Nora Spieler, Berlin, Portugiesisch, Spanisch, Englisch:
Diese Behauptung kann so generell nicht stimmen. Ich persönlich habe von 1970 bis 1975 Lateinamerikanistik und Sprachwissenschaften studiert (mit Dolmetscher- und Übersetzerausbildung sowie Politologie) und war während dieser ganzen Zeit parteilos, also auch kein Mitglied einer Blockpartei. Und ich war absolut kein Einzelfall. Gegen Ende des Studiums und in den ersten Berufsjahren danach war ich immer noch parteilos, obwohl ich als Konferenz- und Verhandlungsdolmetscherin auf höchster Ebene eingesetzt wurde. Zahlreiche Kolleginnen waren ebenfalls parteilos.
Natürlich wurden in der DDR Entscheidungen über die Besetzung von Ämtern, Posten etc. auch nach Parteizugehörigkeit, „Klassenstandpunkt“ und ähnlichen Kriterien vorgenommen (davon ist ja auch die jetzige Gesellschaft nicht ganz frei). Natürlich gab es auch junge Menschen, denen ein Studium versagt bliebt, weil ihre Eltern nicht „staatstreu“ handelten. Aber es gibt auch genug andere Fälle (wie z. B. Kanzlerin Angela Merkel oder ehemalige Mitschülerinnen aus meiner Abiturklasse), die trotz erzchristlicher Erziehung und Elternhäuser ihr Wahlstudium absolvierten und danach an wichtigen Stellen arbeiten konnten.
Das eigene Parteibuch der Kinder als Kriterium zur Zulassung zu einem bestimmten Studium ist allerdings ein wenig glaubwürdiges Argument. In die SED und die anderen Parteien der DDR konnte man erst mit Eintritt der Volljährigkeit aufgenommen werden, also mit Vollendung des 18. Lebensjahres. Wie andere Diskussionsteilnehmer schon bemerkten, ging der Parteiaufnahme ein langwieriges Prozedere voraus, so dass eine gewünschte Aufnahme oft erst während des Studiums erfolgen konnte. Zum Zeitpunkt der Bewerbung um einen Studienplatz (dies hatte bereits in der 11. Klasse zu erfolgen) waren die Abiturienten in der Regel erst 17 Jahre alt. Fazit: Bewerber mit Parteibuch konnte es objektiv nicht geben, mit Ausnahme der jungen Männer, die nach dem Abi ihren Wehrdienst absolvieren mussten und daher das Studium nach Eintritt ihrer Volljährigkeit begannen.
Ich möchte der Autorin des Buches, das Anlass dieser Diskussion war, nichts Unredliches unterstellen. Ich kenne ihren konkreten Fall nicht. Im Allgemeinen würde ich jedoch sagen, dass wenn jemand behauptet, wegen eines fehlenden Parteibuches am Studium gehindert worden zu sein, dies eher nach einer Schutzbehauptung aussieht. Menschen neigen oft dazu, Gründe woanders zu suchen, weil sie sich in ihrer Jugend nicht entscheiden konnten, sich nicht Zwängen (Lernen, Selbstdisziplin) unterwerfen wollten, gebotene Chancen nicht ergriffen oder aus welchen Gründen auch immer in der Schule zu schlechte Noten bekommen hatten.
Ein Studium in der DDR, dazu noch ein Sprachstudium, war nicht der geeignete Ort für diejenigen, die sich erst noch ausprobieren wollten. Es war „verschult“. Studienunterbrechungen, Studienwechsel und das individuelle Zusammenbasteln eines Studienplanes waren Dinge der Unmöglichkeit. Kreative Auszeiten gab es nicht. Das Studium wurde innerhalb der vorgesehen Regelzeit (4 oder 5 Jahre) durchgezogen. „Ewige“ Studenten waren eine unbekannte Spezies. Das mag auf manche abschreckend gewirkt haben, sowie übrigens auch die Aufnahmeprüfungen, die bei vielen Studienrichtungen (auch bei Sprachmittlern) zu bestehen waren.
Solche Gründe sind jedoch zu banal, um sie für die öffentliche Darstellung zu verwenden. Es macht sich immer noch gut, sich als Systemopfer darzustellen. Damit wird denjenigen Unrecht getan, die wirklich gelitten haben und die tatsächlich als Bürgerrechtler aktiv wurden.
Peter Ganzer, Berlin, Diplomsprachmittler und Konferenzdolmetscher, Niederländisch, Französisch, Afrikaans, www.peter-ganzer.de:
Eine bestimmte Richtlinie oder Bestimmung gab es dafür sicherlich nicht (von meiner Seminargruppe war bei Studienbeginn vielleicht ein Viertel der Studenten in der SED und eine Kommilitonin in der NDPD, der Nationaldemokratischen Partei), dies entschied immer die Zulassungskommission vor Ort, in der, zumindest in meinem Fall, auch nicht nur SED-Genossen gesessen haben. Ein gewisses Wohlverhalten oder auch Loyalität gegenüber der DDR wurde jedoch immer vorausgesetzt. Wurde man abgelehnt, gab es keinerlei Widerspruchsmöglichkeiten, da es in der DDR keine Verwaltungsgerichtsbarkeit gab.
Es hatte aber sicherlich Vorteile, in der SED zu sein, vor allem, wenn man eine oder zwei so genannte Westsprachen studieren wollte. Dadurch wird es hier und da passiert sein, dass Leute mit schlechterem Abitur bevorzugt wurden, nur weil sie in der SED waren. Nur bei so genannter Westverwandschaft ging meines Wissens überhaupt nichts mit Westsprachen, aber auch hier hat es Ausnahmen gegeben.
Eine mir bekannte prominente Dolmetscherin hat übrigens bis zum Schluss für Honecker gedolmetscht und war in keiner Partei.
Petra Gürtler, Dresden, Dipl.-Dolmetscher/Übersetzer, Englisch und Französisch:
Das kann ich dementieren. In unserer Seminargruppe 1976-1980 (und das war eine heiße Zeit) waren wir zehn Studenten (5 Französisch/Englisch und 5 Französisch/Portugiesisch). Zwei davon waren vom MDI (Ministerium des Inneren, nicht Stasi) abgestellt, da sie für besondere Aufgaben vorgesehen waren. Wir waren die erste Portugiesisch-Gruppe in Leipzig. Das stand damals in Zusammenhang mit der Entwicklung in Angola und Mosambik, und sie sollten dorthin. Die anderen acht waren in keiner Partei und auch nicht bei der Stasi.
Ich habe sogar eine Freundin in der Schweiz, mit der ich seit 1970 in regem Briefwechsel stehe, die mich schon während der Schulzeit besucht hatte und die ich auch immer als Kontakt angegeben hatte. Für mich hat sich das nicht als Problem erwiesen. Sicher wurde es unterschiedlich gehandhabt, das steht außer Frage. Doch niemand sollte behaupten, dass das Parteibuch eine Voraussetzung für das Studium von Westsprachen war. Dafür kenne ich zu viele Kollegen, die nie in einer Partei waren.
Joachim Peter, Berlin:
So wie das da steht, ist das mal gelinde gesagt journalistisch stark übertrieben. Die Auswahl zum Studium oder auch zu anderen Karriereschritten erfolgte in der DDR sowohl nach fachlicher Leistung als auch sogenannter „gesellschaftlicher Arbeit“. Letzteres äußerte sich im Engagement erst mal in der FDJ, eine Parteimitgliedschaft war natürlich ein besonderes Kennzeichen und Grund zur Bevorzugung.
Wie weit politisches Engagement und Wohlverhalten ausschlaggebend war, war oft undurchschaubar, oft lag es an auch einzelnen Entscheidern. Ich erinnere mich an eine katholische Mitschülerin, der, obwohl sie mit Ausnahme von Sport ausschließlich Einsen auf dem Zeugnis hatte, die Aufnahme an die EOS (vergleichbar mit dem Gymnasium) verweigert wurde. Im Studium kannte ich dagegen einen, der sogar den Wehrdienst mit der Waffe verweigert hatte. Sowas wurde eigentlich als besonders aufmüpfig angesehen, war dadurch an einer Uni auch die absolute Ausnahme.
Was das Dolmetscherstudium betrifft, auf die politische Akte wurde da schon genau geschaut, immerhin musste man ja damit rechnen, im späteren Berufsleben auch eine Menge mit staatstragenden oder geheimen Texten zu tun zu haben, sowie mit Auslandsreisen, je nach Sprachrichtung auch in Gegenden, die dem gewöhnlichen Sterblichen verschlossen waren. Die sogenannten „Reisekader“ wurden stets sehr genau unter die Lupe genommen, eine Parteimitgliedschaft war dafür auf jeden Fall sehr nützlich, ebenso wie eine Kirchenmitgliedschaft oder noch vielmehr Westbeziehungen sehr hinderlich waren, ein Ausschlusskriterium war das aber nicht.
25 % Parteimitglieder erscheinen mir als Durchschnittswert realistisch, nicht mit vordergründig politischen Studienrichtungen vergleichbar, aber auch durchaus mehr als z. B. in meiner Mathematik-Seminargruppe (unter 10 %).
Katja Plaisant, Berlin, Englisch, www.professionelle-uebersetzungen.de:
Vielleicht hat die junge Frau ein nicht so glänzendes Abitur gehabt, und damit wäre ihre einzige Chance das Parteibuch gewesen. Wer weiß. Aber dann sollte man es auch so schreiben.
Ich hatte mich 1988 in Berlin für Englisch/Portugiesisch beworben mit Abi 1,8, allerdings mit 3 in Staatsbürgerkunde. Das wurde natürlich nichts. Vielleicht hätte es ja mit einem Parteibuch funktioniert? Das war aber keine Option für mich.
Rimma Alperowitsch, Dipl.-Translatorin, Russisch, Tschechisch, Belarussisch, Berlin, www.transearly.de:
Das stimmt genauso, wie das, was meinem Sohn in der Schule erzählt worden ist: Die Amerikaner haben 1945 Berlin befreit!
Richard Schneider