„Ein Dolmetscher darf für niemanden Partei ergreifen“ – Walid Abd El Gawad zum Marwa-Prozess

Im Prozess gegen den Mörder der Ägypterin Marwa S. (31) wurde am 11.11.2009 in Dresden das Urteil gefällt: lebenslänglich. Der Täter Alex W. (28) stammt aus Russland, ist in der Region Perm und Kasachstan aufgewachsen und hält sich erst seit fünf Jahren in Deutschland auf.

Die beiden Kontrahenten waren im August 2008 auf einem Spielplatz aneinandergeraten, auf dem sich die Frau mit ihrem zwei Jahre alten Sohn und der arbeitslose Angeklagte mit seiner Nichte und Mutter aufhielt. Marwa S. forderte Alex W. auf, eine Schaukel für ihr Kind frei zu machen. Daraufhin beschimpfte der nach eigenen Aussagen ausländerfeindlich eingestellte junge Mann, der das Leben in Deutschland als „Multikultischeiße“ empfindet, die Kopftuch tragende Frau als „Islamistin“ und „Terroristin“.

Passanten mischten sich ein und versuchten, die lautstarke Auseinandersetzung zu schlichten. Die Angelegenheit eskalierte, weil jemand die Polizei rief. Die Ägypterin nutzte die Gelegenheit und erstattete Anzeige wegen Beleidigung. Alex W. erhielt zunächst einen Strafbefehl über 330 Euro und wurde nach seinem Widerspruch vom Amtsgericht zu einer Geldstrafe von 780 Euro verurteilt. Dagegen legte er Berufung ein.

In der Berufungsverhandlung erstach der Russlanddeutsche dann im Gerichtssaal seine schwangere Kontrahentin mit 15 Messerstichen und verletzte deren Mann schwer. Mit seinem Ausländerhass habe das nichts zu tun gehabt, erklärte er später die Tat. Vielmehr habe er sich durch die Anzeige und die deutsche Justiz ungerecht behandelt und in die Enge getrieben gefühlt.

Der banale Anlass der Auseinandersetzung geriet in der Öffentlichkeit schnell in Vergessenheit. Stattdessen entwickelte sich die Geschichte vor allem in Ägypten zu einem Medienspektakel. Auch deshalb, weil das Opfer als schöne, gebildete und selbstbewusste Mutter dem Idealbild einer fortschrittlichen Muslima entsprach.

In Ägypten wurde das Opfer von Islamisten zur Kopftuch-Märtyrerin hochstilisiert, die für ihre Religion gestorben sei. Die „Muslimbruderschaft“ organisierte in Kairo mehrere Demonstrationen und forderte die Todesstrafe für den Täter. Die Affäre beherrschte am Nil zeitweise die Titelseiten. Dabei wirkte die Presse nicht aufklärend, sondern verbreitete eine anti-deutsche Stimmung. Für die Medien saß Deutschland auf der Anklagebank.

Die Deutschen hingegen fühlten sich als unbeteiligte Dritte: Was haben wir damit zu tun, wenn ein Russe eine Ägypterin ersticht? Abgesehen davon, dass die Gerichtskosten an uns hängen bleiben? In Deutschland wurden die Beleidigung und der Mord nicht als ausländerfeindliche Taten eines Deutschen, sondern als Auseinandersetzung zwischen zwei rechthaberischen Einwanderern wahrgenommen. Das Thema besaß für die deutschen Medien daher nur eine mittlere Bedeutung. Marwa S. sprach weit besser Deutsch als Alex W. und gehörte zu den Gewinnern, Alex W. hingegen zu den Verlierern unter den Einwanderern.

Walid Abd el Gawad
Walid Abd El Gawad

Wie empfindet ein Gerichtsdolmetscher die Situation als Mittler zwischen Kulturen und Rechtssystemen in einem Prozess, der gleich in zwei Ländern im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht? Die Berliner taz hat kurz vor der Urteilsverkündung mit Walid Abd El Gawad (31) gesprochen, der an zwei Verhandlungstagen für den Ehemann des Opfers und einen Anwalt gedolmetscht hat.

Die Verhandlung selbst bezeichnet Abd El Gawad als Prozess auf hohem Niveau, der all seine Erwartungen übertroffen habe: „Es wurde auf jede Kleinigkeit geachtet, zum Beispiel darauf, dass die arabischen Rechtsanwälte genügend Material in ihrer Sprache zur Verfügung hatten.“ Er wünsche sich, dass die Sachlichkeit der deutschen Justiz auch in den arabischen Ländern akzeptiert werde. Die Mehrheit der Deutschen habe mehr Mitgefühl gezeigt als dies in Ägypten wahrgenommen werde.

Das Dolmetschen sei zeitweise emotional schwierig gewesen: „Ich musste mich sehr zusammenreißen, damit ich nicht mitleide – beziehungsweise man mir meine Gefühle nicht ansieht. Ich habe großen Respekt vor den Richtern, die trotz der immensen emotionalen Herausforderungen vollkommen sachlich mit dem Fall umgehen.“

Walid Abd El Gawad studierte Islamwissenschaft und Germanistik in Kairo sowie Arabistik und Orientalische Philologie in Leipzig. Zurzeit ist er Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Orientalischen Instituts der Uni Leipzig.

Im Oktober 2009 wurde er mit dem Preis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) ausgezeichnet, bei dieser Gelegenheit entstand das obige Foto. Aus der Laudatio: „Walid Abd El Gawad bereichert mit seinem vorbildlichen sozialen und kulturellen Engagement verschiedene universitäre Initiativen. Herausragendes Engagement zeigte Abd El Gawad bei der Mitarbeit am Hörbuch Der Koran und als wissenschaftlicher Übersetzer. Ehrenamtlich wirkt er unter anderem in der Internationalen Doktorandeninitiative und als ein Repräsentant der Leipziger Muslime im interreligiösen Dialog in Stadt und Universität.“

Das Interview mit Walid Abd El Gawad können Sie auf der Website der taz lesen.

[Text: Richard Schneider. Quelle: taz, 2009-11-10. Bild: Informationsdienst Wissenschaft, Stephan Flad.]

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