Dolmetscher der Kantonspolizei St. Gallen: „Ich bin auf keiner Seite. Punkt.“

Er spricht sieben Sprachen fließend, dolmetscht Aussagen von mutmaßlichen Dieben, Einbrechern oder Vergewaltigern. Zu seiner Sicherheit wurde sein Name in einem Interview mit dem St. Galler Tagblatt verändert. „Es gibt viele Verrückte da draußen“, erklärt der Dolmetscher bei der Kantonspolizei St. Gallen (Schweiz). In dem Interview spricht er über Sprachen, Wut und Mitleid. Und berichtet von Beschimpfungen und Bedrohungen.

Aufgewachsen ist der Dolmetscher im ehemaligen Ostblock, hat in Wien Sprachwissenschaften und Philosophie studiert, lebt seit 2002 in St. Gallen und ist seitdem für die Kantonspolizei tätig. Der 42-Jährige dolmetscht bei Polizeiverhören. Er übertragt Aussagen von Tätern und Opfern, die Worte der Polizisten sowie der Anwälte aus dem Französischen, Englischen, Russischen und dem Rumänischen, seiner Muttersprache. Bald möchte er Chinesisch und Rätoromanisch lernen. „Wer viele Sprachen spricht, versteht die Welt besser.“

60 bis 100 Mal pro Jahr, ab und an auch mitten in der Nacht, kommt der Dolmetscher der Kantonspolizei St. Gallen zum Einsatz. Nur ein einziges Mal hat er einen Auftrag nicht angenommen. „Es war die Einvernahme eines Kaukasiers. Er war sehr aggressiv. Ich mochte mir diese Beleidigungen nicht länger anhören.“ Es handelte sich dabei um Beleidigungen wie Schwuchtel, Nazi, Depp, Verräter. Dennoch muss er sie sich während seiner Arbeit häufig anhören. Manche Tatverdächtige bedrohen ihn sogar. „Sie erwarten von mir, dass ich auf ihrer Seite bin, weil ich ihre Sprache spreche. Aber ich bin auf keiner Seite. Punkt.“, so der Dolmetscher.

Es interessiert ihn nicht, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht. Er übersetzt automatisch und überträgt jedes einzelne Wort aus einer Sprache in eine andere. Er sorgt sich auch nicht darum, was anschließend mit dem Befragten geschieht. Trotz allem tun ihm die Verdächtigen, insbesondere die jungen Menschen, die ihren Lebenslauf mit einer unbedachten Tat zerstören, manchmal leid. Er sagt: „Delinquenten haben keine Nationalität.“ Oftmals muss er den Verdächtigen die Schweizer Gesetze und den Ablauf von Ermittlungsarbeiten erklären. „Manche sind ganz erstaunt, dass sie hier nicht gefoltert werden.“

Der 42-jährige Dolmetscher der Kantonspolizei St. Gallen versucht, so schnell wie möglich zu vergessen, was im Verhörraum passiert ist. Dazu gehören sowohl die Gesichter, als auch die Aussagen der Verdächtigen. „In Russland sagt man: ‚Je weniger du weißt, desto länger lebst du‘.“

[Text: Jessica Antosik. tagblatt.ch, 06.08.2011.]