Seit 1. Januar 2015 gilt in Deutschland für fast alle Branchen ein flächendeckender Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde. Das entspricht bei einer Vollzeitstelle mit 40 Wochenstunden 1.360 Euro pro Monat.
Angestellte Übersetzer nicht betroffen, aber Praktikanten
Für die Angestellten der Übersetzungsbranche ist die Neuregelung irrelevant, weil sie als Akademiker schon immer deutlich höhere Stundenlöhne bezogen haben.
Spürbare Auswirkungen wird die Mindestlohnregelung aber für Praktikanten haben. Denn der Mindestlohn gilt auch für Praktika, wenn diese länger als drei Monate dauern und es sich dabei nicht um ein von der Prüfungsordnung vorgeschriebenes Pflichtpraktikum im Rahmen der Ausbildung oder des Studiums handelt.
Sprachdienstleister, die Langzeitpraktika anbieten, müssten also künftig ihren Langzeitpraktikanten schon ab dem ersten Monat jeweils 1.360,00 Euro netto zahlen. Hinzu kämen die Lohnnebenkosten. Das können sich kleine Büros mit ein bis drei Mitarbeitern aber nicht leisten.
Die ohnehin geringe Zahl der Langzeitpraktika in der Übersetzungsbranche dürfte deshalb deutlich zurückgehen – möglicherweise sogar auf Null. Denn auch die finanzkräftigen Sprachendienste der großen Konzerne könnten es vorziehen, statt eines teuren sechsmonatigen Praktikums lieber zwei insgesamt preiswertere dreimonatige Praktika anzubieten.
Positiv: Unbezahlte, ausbeuterische Halbjahres- und Jahrespraktika wird es nicht mehr geben
Die einzige positive Auswirkung des Mindestlohns: Unbezahlte und allgemein als Ausbeutung empfundene Halbjahres- und Jahrespraktika wird es künftig in allen Branchen nicht mehr geben.
Negativ: Gesamtzahl der Praktika wird zurückgehen
Richard Schneider pflegt seit Jahren auf UEPO.de das Gesamtverzeichnis aller Praktikumsanbieter im deutschsprachigen Raum und besitzt einen guten Überblick über die Situation in der Übersetzungsbranche. Er sagt:
„Die Zahl der regelmäßigen Praktikumsanbieter ist in unserer Branche mit 62 sehr gering, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es in Deutschland insgesamt rund 40.000 Einzelübersetzer und immerhin 300 bis 400 Übersetzungsunternehmen gibt, die mindestens einen Angestellten beschäftigen. Wir sollten über jeden Sprachdienstleister froh sein, der einen Beitrag zur praxisgerechten Ausbildung des Branchennachwuchses leistet.“
Praxisbeispiel: Praktika bei Schneider Übersetzungen
Richard Schneider hat als Inhaber von Schneider Übersetzungen in den letzten 5 Jahren 17 Praktikantinnen betreut. Wie schätzt er die Auswirkungen des Praktikantenmindestlohns ein?
Was bieten Sie für Praktika in Ihrem Büro an?
„Die Praktikanten lernen bei uns sämtliche Arbeitsbereiche eines Übersetzungsbüros kennen, vor allem das tägliche Projektmanagement. Hinsichtlich der Dauer hatten wir schon alles – vom zweiwöchigen Schülerpraktikum bis zum siebenmonatigen Berufseinstiegspraktikum.
Am häufigsten kommen bei uns vierwöchige Pflichtpraktika für angehende Fremdsprachenkorrespondentinnen eines benachbarten Berufskollegs und zwei- bis dreimonatige freiwillige Semesterferien-Praktika für Studentinnen vor. Diese sind von der Neuregelung nicht betroffen.“
Welche Praktikumsdauer ist sinnvoll?
„Vier Wochen sind das absolute Minimum, um alle Arbeitsbereiche eines Übersetzungsbüros kennen zu lernen. Besser sind zwei bis drei Monate.“
Also brauchen wir keine Langzeitpraktika?
„Doch. Sechs Monate sind für diejenigen sinnvoll, die während des Studiums kein Praktikum absolviert haben. Sie können sich damit zum Berufseinstieg tiefgreifende Praxiskenntnisse aneignen. Gerade aus den mehrmonatigen Praktika ergibt sich nicht selten eine Chance zur Festanstellung.
Geradezu ideal sind Langzeitpraktika für alle, die sich beruflich umorientieren möchten. Also etwa für Anglisten und Romanisten, die lieber übersetzen möchten als sich jahrzehntelang im Lehramt von Kindern und Halbstarken terrorisieren zu lassen.“
Was wird der Mindestlohn für Auswirkungen haben?
„Den dadurch eliminierten unbezahlten, ausbeuterischen Langzeitpraktika wird kaum jemand eine Träne nachweinen. Mit ihnen gehen aber auch die vielen erstklassig betreuten Langzeitpraktika in kleinen Übersetzungsbüros verloren, bei denen eine angemessene Praktikumsvergütung gezahlt wurde, mit der alle Seiten gut leben konnten.“
Wie werden bei Ihnen die Praktikanten vergütet?
„Wir beschäftigen Praktikantinnen im Rahmen eines Minijobverhältnisses (also inklusive Unfall- und Rentenversicherung) mit 450 Euro pro Monat. Hinzu kommt ein Essenskostenzuschuss von 10 Euro pro Tag und kostenlose Getränke. Außerdem bezahlen wir im Rahmen des Praktikums die Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen der Berufsverbände und besuchen gemeinsam Großveranstaltungen wie die Frankfurter Buchmesse und tekom-Tagungen. Gerne überlassen wir den Praktikantinnen auch Rezensionsexemplare oder ältere Versionen von Wörterbüchern. Das ergibt einen geldwerten Vorteil von 600 bis 700 Euro pro Monat.
Die meisten anderen Büros zahlen gar nichts, einige weniger als wir, manche mehr. Aber egal, ob man 300, 600, 900 oder 1.200 Euro als Praktikumsvergütung vereinbart – all das ist bei einem Langzeitpraktikum künftig verboten. Übersetzungsbüros, die sich den Mindestlohn von 1.360 Euro im Monat nicht leisten können, dürfen künftig grundsätzlich keine Langzeitpraktika mehr anbieten.“
Wird es bei Schneider Übersetzungen künftig noch Langzeitpraktika geben?
„Nein, natürlich nicht. Denn eine Praktikumsvergütung ist nicht als ,Lohn‘ für eine Arbeitsleistung gedacht. Warum sollte ich für eine Praktikantin 1.500 Euro pro Monat ausgeben? Für dasselbe Geld könnte ich eine Projektmanager-Halbtagsstelle für eine fix und fertig ausgebildete Fremdsprachenkorrespondentin einrichten.“
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[Text: uepo.de/Richard Schneider. Bild: VRD/Fotolia, TheSimplify/Fotolia, Schneider.]