Sprachkritische Professorengruppe kürt „Volksverräter“ zum „Unwort des Jahres 2016“

Unwort des JahresNach dem bereits verkündeten „Wort des Jahres“ 2016 (postfaktisch), dem „Schweizer Wort des Jahres“ (Filterblase), der „Gebärde des Jahres“ (Trump) und dem „Jugendwort des Jahres“ (fly sein) fehlte im Reigen der Wörter des Jahres nur noch das „Unwort“.

Dieses wurde heute von der sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“ bekannt gegeben. Die Jury entschied sich für das Wort „Volksverräter“.

Nach den inzwischen fest im Sprachgebrauch etablierten Ausdrücken „Lügenpresse“ (Unwort 2014) und „Gutmensch“ (Unwort 2015) schafft es damit bereits zum dritten Mal in Folge ein vor allem von der PEGIDA-Bewegung in die politische Debatte eingebrachter Begriff auf den ersten Platz. „Glückwunsch zum Hattrick!“, twitterte ein Witzbold zur erneuten Negativauszeichnung.

Kritik an selbsternannter „Sprachpolizei“

Neben breiter Zustimmung zur Entscheidung der politisch zuverlässig links stehenden Jury meldeten sich aber auch kritische Stimmen zu Wort, denen aufgefallen ist, dass „linke“ Unwörter wie das von Bundespräsident Gauck verwendete „Dunkeldeutschland“ von den Professoren stets ignoriert werden.

Die AfD Heidelberg glaubt, das Konzept der Aktion durchschaut zu haben. Unter Anspielung auf George Orwells „Neusprech“ im Roman „1984“ twitterte sie: „Definition #Unwort: Ein doppelplusungutes Wort, welches doppelplusgute Bürger nie verwenden würden.“

Andere Twitter-Äußerungen mit derselben Zielrichtung:

  • „‚Volksverräterin‘ wäre wohl zu offensichtlich gewesen.“
  • „Lügenpresse, Gutmensch, Volksverräter: Offenbar wird automatisch zum #Unwort des Jahres, was die politisch-mediale Klasse am meisten empört.“
  • „Wenn Politiker Ziele verfolgen, die nicht im Interesse des Souveräns, ergo des Volkes liegen, was ist es anderes als #Volksverrat (#Unwort)?“
  • „#Volksverräter ist eine derbe Schmähung, die sich aber nur gegen Mächtige wendet. Die ‚Wahl‘ zum #Unwort zeigt: Wir sollen das Maul halten.“
  • Scherzhaft weisen Twitterer darauf hin, dass bei den Montagsdemos in Sachsen von den Demonstranten keineswegs „Volksverräter“, sondern das im lokalen Idiom gleichklingende (homophone) „Volksfahrräder“ skandiert werde.

Der der CDU nahestehende Publizist Hugo Müller-Vogg schrieb zur Wahl des Unwortes „Gutmensch“ im Vorjahr: „Eine von niemandem gewählte oder irgendwie legitimierte Professoren-Jury hat sich als Sprachpolizei etabliert. Jedes Jahr bestimmt sie ein ‚Unwort des Jahres‘. […] Es ging stets um eine bestimmte Politik, die der Jury nicht links genug ist. So einfach ist das – und so typisch gutmenschlich.“

Allerdings befinden sich dieses Jahr durchaus „linke“ Beiträge zum politischen Diskus wie „postfaktisch“, „Einzelfall“, „Wir schaffen das!“ und „eine Armlänge Abstand“ in der Auswahlliste.

Pressemitteilung der sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“ im Wortlaut

Die Jury hat in diesem Jahr sehr lange diskutiert, ob das „Unwort des Jahres 2016“ wirklich aus dem plakativen und polemischen Sprachgebrauch stammen sollte, den Angehörige und Anhänger von Pegida, AfD oder ähnlichen Initiativen verwenden – und eine Einigung auf ein konkretes Wort fiel schwer.

 

Es ist uns auch bewusst, dass wir mit „Volksverräter“ ein Wort gewählt haben, das sich dem bereits 2014 gewählten Wort „Lügenpresse“ an die Seite stellen lässt. Doch die Einsendungen zeigen, dass sich der Großteil öffentlicher Sprachkritik gegen einen diffamierenden Sprachgebrauch im Themenfeld Migration richtet.

 

Die Aktion „Unwort des Jahres“ versteht sich als eine sprachkritische Initiative, die in einer Zeit, in der der gesellschaftliche Konsens über die Grundprinzipien der Demokratie in Gefahr zu sein scheint, die Grenzen des öffentlich Sagbaren in unserer Gesellschaft anmahnen sollte.

 

Es geht dabei nicht um einen Versuch der Zensur oder Sprachlenkung, sondern darum, für mehr Achtsamkeit im öffentlichen Umgang miteinander zu plädieren.

In diesem Jahr wurde daher auch kein anderes Unwort nominiert, um der mit der Wahl ausgedrückten Kritik an dem derzeit in sozialen Netzwerken, aber auch in der Politik zunehmenden Sprachgebrauch mit faschistischem und fremdenfeindlichem Hintergrund mehr Gewicht zu verleihen.

 

„Volksverräter“ ist ein Unwort im Sinne unserer Kriterien, weil es ein typisches Erbe von Diktaturen, unter anderem der Nationalsozialisten ist. Als Vorwurf gegenüber Politikern ist das Wort in einer Weise undifferenziert und diffamierend, dass ein solcher Sprachgebrauch das ernsthafte Gespräch und damit die für Demokratie notwendigen Diskussionen in der Gesellschaft abwürgt.

 

Der Wortbestandteil „Volk“, wie er auch in den im letzten Jahr in die öffentliche Diskussion gebrachten Wörtern „völkisch“ oder „Umvolkung“ gebraucht wird, steht dabei ähnlich wie im Nationalsozialismus nicht für das Staatsvolk als Ganzes, sondern für eine ethnische Kategorie, die Teile der Bevölkerung ausschließt. Damit ist der Ausdruck zudem antidemokratisch, weil er – um eine Einsendung zu zitieren – „die Gültigkeit der Grundrechte für alle Menschen im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik“ verneint.

 

Unwort-Statistik 2016

 

Für das Jahr 2016 wurden 594 verschiedene Wörter eingeschickt, von denen ca. 60 den Unwort-Kriterien der Jury entsprechen. Die Jury erhielt insgesamt 1064 Einsendungen.

 

Die zehn häufigsten Einsendungen insgesamt, die allerdings nicht sämtlich den Kriterien der Jury entsprechen, waren:

 

– postfaktisch (48)

– Populismus/Rechtspopulismus (38)

– (bedauerlicher) Einzelfall (21)

– Gutmensch (18)

– (Flüchtlings-)Obergrenze (17)

– Flüchtlingsdeal (15)

– Biodeutscher/biodeutsch (14)

– Umvolkung (12)

– Wir schaffen das! (11)

– eine Armlänge/eine Armlänge Abstand (10)

 

Der Ausdruck „Volksverräter“ wurde insgesamt dreimal eingesendet.

 

Zusammensetzung der Jury

 

Die Jury der institutionell unabhängigen Aktion „Unwort des Jahres“ besteht aus folgenden Mitgliedern: den vier Sprachwissenschaftlern Prof. Dr. Nina Janich/TU Darmstadt (Sprecherin), PD Dr. Kersten Sven Roth (Universität Düsseldorf), Prof. Dr. Jürgen Schiewe (Universität Greifswald) und Prof. Dr. Martin Wengeler (Universität Trier) sowie dem Autor und freien Journalisten Stephan Hebel. Als jährlich wechselndes Mitglied war in diesem Jahr die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger beteiligt.

 

Weitere Informationen zur Aktion „Unwort des Jahres“, den Auswahlkriterien und bisherigen Unwörtern finden Sie unter der folgenden Adresse:

 

www.unwortdesjahres.net

Mehr zum Thema

[Text: Aktion „Unwort des Jahres“. Quelle: Pressemitteilung Aktion „Unwort des Jahres“, 2017-01-10. Bild: „Unwort des Jahres“.]