Halle (Saale): Größerer Drogenprozess droht zu platzen, weil Übersetzerin nicht vereidigt war

Cannabis
Vermutlich wurden bei den Beschuldigten Pflanzen der Gattung Cannabis entdeckt (Bild: Cytis / Pixabay).

„Dieser Skandal besitzt Sprengkraft!“, schreibt die Bild-Zeitung. „Sachsen-Anhalts Polizeibehörden schlampen seit Jahren bei der Dolmetscher-Auswahl.“

Das Blatt berichtet über einen seit zwei Monaten laufenden Strafprozess am Landgericht Halle (Saale). Mehreren Albanern wird vorgeworfen, in größerem Stil Drogen angebaut zu haben. Um die Bande zu überführen, hatte die Polizei unter anderem deren Telefone abgehört und 20.500 (!) Gespräche mitgeschnitten.

Jetzt hat einer der Verteidiger herausgefunden, dass die Aufnahmen der polizeilichen Telefonüberwachung (TÜ) von einer Dolmetscherin übersetzt wurden, die – wie sie selbst zugegeben habe – weder übersetzerisch qualifiziert noch gerichtlich beeidigt ist.

Daraufhin beantragte die Verteidigung ein „Verwertungsverbot sämtlicher Übersetzungen“. Würde dem stattgegeben, müssten unter Umständen alle Übersetzungen von einer anderen Übersetzerin zumindest geprüft und ggf. neu übersetzt werden.

Dass eine andere Übersetzerin inhaltlich zu anderen Ergebnissen kommt, ist unwahrscheinlich. Bei 20.500 Telefonaten könnte die Durchsicht aber erhebliche Zeit in Anspruch nehmen. Die dadurch entstehende Verzögerung des Prozesses dürfte der eigentliche Zweck des Vorstoßes sein, zumal der bisherigen Übersetzerin nicht vorgeworfen wird, falsch übersetzt zu haben.

Bild attackiert Dolmetscherin

Die Boulevard-Zeitung greift die 47-jährige Dolmetscherin, die seit 20 Jahren in Deutschland lebt, sehr direkt an. Das Blatt nennt ihren Vor- und abgekürzten Nachnamen, veröffentlicht ein heimlich geschossenes Foto und titelt „Wie viele Urteile sind wegen dieser Dolmetscherin ungültig?“. Weil die Frau seit fünf Jahren für das Landeskriminalamt und die Polizei arbeitet, glaubt der Journalist offenbar, dass jetzt auch bereits abgeschlossene Verfahren wieder aufgerollt werden müssten.

Der Vorwurf der fehlenden übersetzerischen Qualifikation zieht für Albanisch (und Dutzende anderer Sprachen) nicht. Wegen fehlender Ausbildungs-, Studien- und Prüfungsmöglichkeiten sind praktisch alle Übersetzer und Dolmetscher für Albanisch Quereinsteiger. In ganz Deutschland gibt es nur ein einziges Prüfungsamt (Darmstadt), das eine staatliche Prüfung für Albanisch-Übersetzer anbietet.

Stichhaltig ist allerdings der Hinweis auf die fehlende gerichtliche Beeidigung/Ermächtigung. Erstaunlich ist, dass die Polizei bei einem Verfahren dieser Größenordnung nicht darauf geachtet hat, eine vereidigte Sprachmittlerin heranzuziehen.

Praxis der Auftragsvergabe ist der eigentliche Skandal

Der eigentliche Skandal ist nicht die Dolmetscherin, sondern die weit verbreitete Praxis der Auftragsvergabe an Sprachmittler, die weder ausreichend qualifiziert noch allgemein beeidigt bzw. ermächtigt sind.

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[Text: Richard Schneider. Quelle: Bild, 2018-09-17.]