Mira Kadrić: Gerichts- und Behördendolmetschen – Prozessrechtliche und translatorische Perspektiven

Mira Kadrić: Gerichts- und Behördendolmetschen
„Das Dolmetschen vor Behörden und Gerichten ist heute in seiner gesellschaftlichen Bedeutung anerkannt“, so Mira Kadrić. - Bild: Weinwurm

„Das Dolmetschen vor Behörden und Gerichten ist heute in seiner gesellschaftlichen Bedeutung anerkannt. Angetrieben von Europäischer Union und Europarat hat sich auf diesem Gebiet auf nationaler Ebene in den letzten Jahren viel getan. Behörden und Gerichte schenken der Qualität der Dolmetschung zunehmend Beachtung. Die Zahl interdisziplinärer Foren, die sich mit dem Thema beschäftigen, nimmt zu“, schreibt Mira Kadrić im Vorwort zu ihrem neuen Überblickswerk Gerichts- und Behördendolmetschen – Prozessrechtliche und translatorische Perspektiven.

Kadrić ist Professorin am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien und dessen stellvertretende Leiterin. Sie führt weiter aus:

Der Bedarf an Dolmetschung steigt aufgrund verschiedenster Faktoren: Die voranschreitende Integration Europas mit der Mobilität seiner Bürgerinnen und Bürger, wachsender Tourismus, Migration, Binnenmarkt, aber auch ein Mehr an Kommunikation zählen dazu. So gibt es heute in ganz Europa eine enorme Zahl an gerichtlichen und behördlichen Verfahren, an denen Personen beteiligt sind, die die Gerichts- und Landessprache nicht sprechen und auf Dolmetschdienste angewiesen sind. Das Recht auf Dolmetschung wird immer öfter in Rechtstexten herausgestrichen; neben die Europäische Menschenrechtskonvention sind jüngere Richtlinien der Europäischen Union getreten, die die Dolmetschung für Opfer und Verdächtige eines Strafverfahrens garantieren.

Ausgehend von supranationalen rechtlichen Garantien und Grundsätzen – Menschenrechtskonvention und EU-Richtlinien – und nationalen gesetzlichen Regelungen stellt Kadrić die Grundlagen und Strategien des translatorischen Handelns systematisch dar und illustriert sie durch Beispiele aus der behördlichen und gerichtlichen Praxis.

Daran anknüpfend entwickelt die Autorin Vorschläge für eine spezifische Ausbildung im Bereich des gerichtlichen und behördlichen Dolmetschens, die den sich verändernden Sprachenbedarf berücksichtigt.

Zu den anvisierten Zielgruppen gehören nicht nur angehende Gerichts- und Behördendolmetscher, sondern auch Juristen. Letztere haben sich laut Kadrić in letzter Zeit verstärkt dem Thema Dolmetschen zugewandt, ist doch die Qualität ihrer Arbeit vom Standard der Dolmetschung abhängig. Anwälten und Richtern soll das Buch deshalb eine ganzheitliche Perspektive auf den Bereich Translation und Recht bieten.

In einem Gespräch mit dem Universitätsmagazin uni:view stellt Kadrić ihr jüngstes Buch vor.

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Kürzlich ist Ihre Publikation „Gerichts- und Behördendolmetschen“ erschienen. Was sind in diesem Fall die speziellen Herausforderungen für Dolmetscher?

Dolmetscherinnen und Dolmetscher haben vor Behörden und Gerichten mehrfache Verpflichtungen: Für die an einem Verfahren beteiligten Personen geht es oft um viel – bei einem Obsorgestreit, einem Wohnungskündigungs-, einem Asyl- oder Strafverfahren. Behörden und Gerichte sind auf die Dolmetscher angewiesen, um allen Beteiligten nicht nur ein effizientes, sondern auch ein faires Verfahren garantieren zu können. Fehler in der Dolmetschung können unmittelbar den Ausgang des Verfahrens beeinflussen.

Hat sich die Arbeitssituation von Gerichtsdolmetscher über die letzten Jahre – auch im Hinblick auf anhaltende Migrationsströme – gewandelt?

Die Qualitätsanforderungen sind gestiegen, die EU hat wichtige Regelungen zum Gerichts- und Behördendolmetschen erlassen. Der Bedarf nach bestimmten Sprachen ist einem raschen Wechsel unterworfen.

Wie sieht die konkrete Ausbildung im Bereich des gerichtlichen und behördlichen Dolmetschens aus?

Dieser Dolmetschbereich wird in den translatorischen Studien, also auch am Zentrum für Translationswissenschaften der Universität Wien, mitberücksichtigt. Allerdings decken alle österreichischen Universitäten zusammen rund 20 Sprachen ab.

Umso wichtiger und erfreulicher ist es, dass die Universität Wien seit vier Jahren einen postgradualen Universitätslehrgang „Akademische/r Gerichts- und Behördendolmetscher/in“ anbietet. Er steht Absolventen verschiedener Studienrichtungen offen, wir bieten hier eine Spezialausbildung in den Sprachen Albanisch, Arabisch, Dari/Farsi und Türkisch an und bauen dieses Angebot aus.

Die aktuelle Semesterfrage der Universität Wien behandelt Sprache und lautet: Wie wirkt Sprache? Wie beantworten Sie die Frage aus der „Dolmetschperspektive“?

Die Sprache bestimmt ganz wesentlich unsere Identität mit. Sie macht den einzelnen Menschen, sein Denken, Handeln und seine Kultur sichtbar und ermöglicht den Anschluss an das gesellschaftliche Leben. Kommunikationsschwierigkeiten, also auch die Unkenntnis der Amtssprache oder einer Weltsprache, bedeuten de facto Sprachlosigkeit und die Abtrennung von Bildungsmöglichkeiten und einen erschwerten Zugang zum Rechts- oder zum Gesundheitssystem.

Neben den rechtlichen Aspekten ist es für Menschen auch auf der emotionalen und symbolischen Ebene wichtig, in der eigenen Mutter- bzw. Herkunftssprache kommunizieren zu können. Es ist daher eine Frage gesellschaftlichen Respekts, Sprachenvielfalt anzuerkennen. Die Vielfalt der Sprachen in Europa stellt Bürokratie und Verwaltung vor Herausforderungen. Dolmetschung verhilft hier zu Lösungen.

Welches Buch empfehlen Sie unseren Leserinnen und Lesern?

Zum Kontext hier passend: Mut zum Recht von Oliver Scheiber. Das Buch bietet einen hochgradig reflektierten Einblick in das Justizsystem und ermuntert zu einer empathischen Rechtsanwendung. Aus meinen eigenen Forschungserfahrungen und meiner früheren Tätigkeit als Gerichtsdolmetscherin kann ich diesen Ansatz nur unterstreichen.

Ich möchte aber auch einen Roman empfehlen: Das Gewicht der Worte von Pascal Mercier. Hier tritt ein polyglotter Protagonist auf, Verleger und Übersetzer, der eindrucksvoll über die Sprache philosophiert und die Faszination für sprachliche Nuancen vermittelt. Als Übersetzer wählt er jedes seiner Worte mit Bedacht aus, erzählt von den Grenzen des Vermittelbaren.

Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?

Der Text erhält eine besondere Bedeutung in diesem Jahr der Pandemie: Zeit zum Nachdenken, für sprachliche Nuancen, für das Leben zu haben. All das findet der Protagonist, nachdem er erfährt, dass er todkrank ist – zum Glück eine Fehldiagnose.

Zudem geht es um eine europäische Wirklichkeit: Die Hauptfigur, Simon Leyland, ist Sohn einer Deutschen und eines Engländers, seine Frau ist die Tochter eines französisch-italienischen Ehepaars. In Triest aufgewachsen, sind die Kinder des Protagonisten vor allem Italiener. Geformt von mehreren Sprachen und Kulturen.

Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?

Der Roman handelt von gewonnener Zeit, von plötzlichen Wendungen und Chancen, die aus einer Fehldiagnose entstehen. Vor der Corona-Krise haben wir vieles in unserer Arbeit, in unserem Alltag nicht hinterfragt und unsere individuelle Lebensgestaltung und Freiheit für selbstverständlich gehalten.

Die in den letzten Wochen und Monaten erlebten Einschränkungen sollten uns lehren, uns den Wert von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten bewusst zu machen und mit ihnen auch sensibler umzugehen. Das inkludiert auch unseren Umgang mit Sprache(n). So wie das Recht, sind sie ein gewichtiges Machtinstrument.

Über die Autorin

Mira Kadric ist Professorin am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien und dessen stellvertretende Leiterin. Zudem leitet sie den Universitätslehrgang „Dolmetschen für Gerichte und Behörden“ sowie die Zertifikatskurse „Barrierefreie Kommunikation: Schriftdolmetschen“ und „Dolmetschen mit neuen Medien: CAI-Tools, Telefon- und Videodolmetschen“.

Bibliografische Angaben

Mehr zum Thema

Der Interview-Text ist ursprünglich im Magazin uni:view der Universität Wien erschienen. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.

rs, uni:view