Glaubt man aktuellen Wörterbüchern, existiert der Ausdruck „Dolmetschung“ überhaupt nicht, sondern lediglich die Variante „Verdolmetschung“.
In der Lebenswirklichkeit ist die nicht im Duden verzeichnete Form hingegen zwar selten, aber immer wieder zu hören und zu lesen, wie gerade erst wieder jemandem auf Twitter aufgefallen ist: „Ich hab noch nie das Wort ‚Dolmetschung‘ gehört“, schreibt er. Da er es auf der Seite des österreichischen Bildungsministeriums aber gleich vier Mal gelesen habe, sei er ins Zweifeln gekommen.
Tatsächlich begegnet allen, die im Bereich Übersetzen und Dolmetschen unterwegs sind, hin und wieder dieser Terminus. Dabei wird er nach unserem Eindruck überwiegend von Branchenfremden benutzt und auffallend häufig im österreichischen Raum. Eine einfache Google-Suche findet immerhin 74.500 Textbelege.
In zu lektorierenden Texten korrigieren wir die „Dolmetschung“ ohne große Umschweife zu „Verdolmetschung“, weil nur diese Variante im Duden steht. Aber warum ist das so?
1854 im Grimmschen Wörterbuch und bis mindestens 1961 auch im Duden
Offenbar war der Ausdruck „Dolmetschung“ in früheren Jahrhunderten und bis Mitte des 20. Jahrhunderts weiter verbreitet als heute. Er findet sich zumindest in den Wörterbüchern dieser Epochen.
- Martin Luther (1483-1546) hat den Ausdruck regelmäßig verwendet. Und 200 Jahre später findet er sich auch in den Texten von Goethe (1749-1832), wie das online einsehbare Goethe-Wörterbuch belegt.
- Das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm, dessen Bände ab 1854 herausgegeben wurden, enthält einen ausführlichen Eintrag zu „Dolmetschung“.
- Auch in der uns vorliegenden 14. Duden-Auflage von 1956 war die „Dolmetschung“ noch verzeichnet. In der 17. Auflage von 1973 allerdings nicht mehr. Die Duden-Redaktion muss das Wort also 1961 zur 15. oder 1967 zur 16. Auflage getilgt haben. Danach geriet es in Vergessenheit, obwohl es über Jahrhunderte zum Wortschatz der deutschen Sprache gehörte.
Nicht falsch, sondern selten und mit regionalem Schwerpunkt im Süden
Wie die oben angeführten Belege zeigen, ist das Wörtchen „Dolmetschung“ nicht falsch, sondern heutzutage lediglich selten. Deshalb steht es nicht mehr im Duden.
Die Substantivierung wird vollkommen logisch und den Regeln der Grammatik entsprechend gebildet – analog zu „übersetzen“ – „Übersetzung“. Gerade deshalb wird das Wort seit Generationen immer wieder spontan neu gebildet, obwohl es in keinem aktuellen Nachschlagewerk mehr zu finden ist.
Rätselhaft bleibt, warum sich im Verlauf der Sprachentwicklung die mit einer Vorsilbe versehene längere und komplexere Variante „Verdolmetschung“ durchgesetzt hat und die einfachere Grundform heute offiziell als ausgestorben gilt. Denn meist entwickelt sich Sprache von „kompliziert“ zu „einfach“.
Da die „Dolmetschung“ offensichtlich partout nicht totzukriegen ist, wäre es sinnvoll, sie als Variante von „Verdolmetschung“ zumindest wieder in die größeren Duden-Ausgaben (Deutsches Universalwörterbuch) aufzunehmen. Verdient hätte sie es.
Richard Schneider