Floskel des Jahres 2021 ist „Eigenverantwortung“

Floskel des Jahres 2021
Bild: Aktion „Floskel des Jahres“

Die Journalisten Sebastian Pertsch (Berlin) und Udo Stiehl (Köln) haben im Rahmen ihres Projekts Floskelwolke die „Floskeln des Jahres 2021“ gekürt. Aus Vorschlägen ihrer Leser und eigenen Beobachtungen wurden fünf Ausdrücke ausgewählt, die im abgelaufenen Jahr besonders für Stirnrunzeln und Kopfschütteln gesorgt haben.

Die fünf Gewinner des Negativpreises

Platz 1: Eigenverantwortung

Ein legitimer Begriff von hoher gesellschaftlicher Bedeutung wird ausgehöhlt und endet als Schlagwort von politisch Verantwortlichen, die der Pandemie inkonsequent entgegenwirken. Fehlgedeutet als Synonym für soziale Verantwortung und gekapert von Impfgegner:innen als Rechtfertigung für Egoismus.

Platz 2: klimaneutral

Ein wohlklingendes Etikett, das bei näherer Betrachtung nicht immer hält, was es verspricht. Dabei lassen Greenwashing-Phrasen wie „klimaneutrales Erdöl“ und „klimaneutralere Produktion“ sowie ein problembehafteter und selten hinterfragter Zertifikatshandel wichtige Ziele im PR-Nebel verschwinden.

Platz 3: links-gelb

Was bei „links-grün“ noch mit „versifft“ geframt wurde, schwingt bei „links-gelb“ schon unausgesprochen mit. Die Kombination ist ein gezielter Misskredit gegen politische Konkurrenz in neuer Dimension: Diesmal als zentraler Wahlkampfbegriff, der weit über den Regierungswechsel hinausreichen wird.

Platz 4: unvorhersehbar

Wissenschaftliche Prognosen und eindringliche Appelle renommierter Expert:innen lösen Monate später vorgebliche Überraschung bei Bundes- und Landesregierungen aus. Im zweiten Jahr der Pandemie überwiegen die gefühlten Wahrheiten die rationalen Fakten, wenn es vorhersehbar um die Wählergunst geht.

Platz 5: Instrumentenkasten

Das Zentrallager der föderalen Uneinigkeit: der Instrumentenkasten. Die Komposition suggeriert ein bundesweit gemeinschaftliches und einheitliches Vorgehen, das praktisch jedoch in länderspezifische Eigenwilligkeiten zerfällt. Sprachbildlich gefüllt mit 16 ersten Geigen und einem Dirigentenstab.

Über den Negativpreis „Floskel des Jahres“

Viele neue Begriffe, ausrangierte Formulierungen, ausgeleierte Floskeln und geframte Phrasen haben die Nachrichtenberichterstattung auch im vergangenen Jahr geprägt. Besonderes Augenmerk verdienten dabei jene zur Pandemie, zur Klimapolitik und zu den Wahlen, die gelegentlich wenig durchdacht waren, mit denen teils distanzlos berichtet wurde oder die gezielt in den medialen Umlauf gebracht wurden.

Immerhin: Die Wortwahl ist im zweiten Jahr der Pandemie zwar subtiler geworden – andererseits ist auch erkennbarer und verständlicher geworden, wie Framing und Begriffskaperungen alltäglicher und gezielt eingesetzt werden.

Die Anzahl der Vorschläge für das Jahr 2021 ist dabei im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen. Während für die erste Auszeichnung der „Floskel des Jahres“ (01.01.2021) vor genau einem Jahr 178 Vorschläge eintrafen, waren es für den diesmaligen Negativpreis (01.01.2022) nur noch 72 Begriffe und Formulierungen. Die Gründe sind offensichtlich, sagt Sebastian Pertsch:

Die Pandemie sorgte im ersten Jahr für zahlreiche Neologismen und Floskeln, die auch den Journalismus beschäftigten. Damals hatten mehr als ein Drittel der Einreichungen einen direkten oder indirekten Bezug zur Pandemie bzw. zum Virus SARS-CoV-2 und zur Erkrankung Covid-19.

Manche Formulierungen wie der aus dem Englischen gekaperte ,Lockdown‘ haben sich mittlerweile sprachlich etabliert, manche Neuschöpfungen wie bei ,Social Distancing‘ hat man wegen innerer Widersprüche deutlich seltener genutzt und manche Intentionen haben sich ganz anders bewahrheitet: Beispielsweise fielen vor den Impfungen Anfang 2021 noch Wörter wie ,Impfneid‘ oder ,Impftouristen‘, während man sich mittlerweile eher fragt, weshalb Deutschland bei der Impfquote enorm hinterherhinkt.

Udo Stiehl ergänzt:

Vom Greenwashing-Begriff ,klimaneutral‘, der den 2. Platz erreichte, bis hin zu verächtlichen Formulierungen wie ,Klimasozialismus‘ oder ,Ökoterror‘ gab es einige Wörter zu den Themen Anthropozän, Klimawandel und Klimapolitik, die die Floskelwolke als Vorschläge erreichten und die wir auch selbst beobachten konnten. Die zeitlosen, meist harmlosen Klassiker wie ,Gas geben‘ oder ,Am Ende des Tages‘ blieben aber ebenfalls nicht aus.

Das sogenannte ,Superwahljahr‘ mit 6 Landtagswahlen, einigen Kommunalwahlen und der Wahl zum 20. Bundestag führte zu Eigenheiten wie ,Fortschrittskoalition‘ oder ,Zukunftsteam‘ und zu unspektakulären Wortspielen wie ,Grünes Licht für Ampel‘. Das von der derzeitigen Opposition – und dort insbesondere von der CSU – gesetzte Framing ,links-gelb‘ schaffte es schließlich in die Top 5.

„Zwar haben sich einige Themenschwerpunkte verändert, im Kern sind die Stile aber gleich geblieben“, sagt Sebastian Pertsch. „Gewandelt hat sich aber möglicherweise die Professionalität, mit der Politik, Wirtschaft und in letzter Zeit verstärkt auch Aktivist:innen einen Journalismus vorgaukeln und über ihre PR-Medien erschreckend geschickt Kampfbegriffe, Buzzwords und gelenkte Inhalte streuen, die von der Öffentlichkeit als Nachrichten wahrgenommen werden. Dieser Trend, den wir bereits aus den USA kennen, ist besorgniserregend.“

Udo Stiehl weist darauf hin, dass man mit der Aktion nicht einzelne Medien oder Kollegen vorführen, sondern auf grundsätzliche sprachliche Probleme hinweisen möchte.

Über die Floskelwolke

Die Floskelwolke von Udo Stiehl und Sebastian Pertsch ist ein am 11. August 2014 gestartetes sprach- und medienkritisches Webprojekt, das dem professionellen Nachrichtengeschäft den Spiegel vorhalten soll. Mit der Floskelwolke kritisieren sie zum einen Floskeln, Phrasen und weitere fragwürdige Formulierungen in deutschsprachigen Nachrichtentexten. Zum anderen analysieren sie ihre Verwendung und Häufigkeit in den Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Die Macher der Floskelwolke kritisieren vor allem jene Formulierungen, die nicht nur einfach überflüssig, manchmal auch amüsant sind – und auch primär nicht jene, die einen Text hässlich und langweilig machen. Einige Begriffe und Formulierungen sind allerdings tatsächlich schlimm, wenn es um präzise Sprache geht oder Sachverhalte möglichst neutral geschildert werden müssen. Dann können sie falsche Bilder erzeugen oder Informationen verschleiern.

Das (daten)journalistische Webprojekt ist werbefrei, unabhängig, für die Leser kostenfrei und wird ehrenamtlich betrieben. Es wird von den Machern privat finanziert, Sponsoren gibt es nicht.

PM Floskelwolke