Die Literaturübersetzerin Anne Weber erhält den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 in der Kategorie Übersetzung. Sie wird für ihre Übertragung des Werks Nevermore der französischen Schriftstellerin Cécile Wajsbrot ausgezeichnet.
Aus der Begründung der Jury:
Eine französische Autorin, die auch Übersetzerin ist, übersetzt „To the Lighthouse“ von Virginia Woolf. Sie wird ihrerseits übersetzt von Anne Weber, einer Deutschen, die ebenfalls Schriftstellerin ist. Was diese drei Frauen hier aufführen, das ist ein Krimi des Bezeichnens!
Doch wo ist das Bezeichnete eigentlich? „Jedes Ding verbirgt ein anders“, liest man in Anne Webers Worten bei Cécile Wajsbrot. Und so führt sie uns im Flüsterton dreier Sprachen ein in ein Reich der Abwesenheiten: in das ausgebombte Dresden, die im Krieg zerstörte Kathedrale von Coventry, das verseuchte Gebiet um Tschernobyl und zur Industrieruine der High Line in New York.
Etwas lebt an diesen Orten, das sich immer wieder entzieht. So wie das Original sich dem Übersetzer entzieht. Gespensterorte und – Gespensterworte. Anne Weber, herzlichen Glückwunsch zu diesem „Roman Noir“ der Übersetzungskunst. Herzlichen Glückwunsch auch zum Preis der Leipziger Buchmesse.
Anne Weber wurde 1964 in Offenbach geboren und lebt in Paris. Sie übersetzt sowohl ins Deutsche (u. a. Pierre Michon, Marguerite Duras) als auch ins Französische (z. B. Sibylle Lewitscharoff und Wilhelm Genazino). Ihr Roman Kirio (S. Fischer, 2017) stand auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2017, für Annette, ein Heldinnenepos (Matthes & Seitz, 2020) erhielt sie den Deutschen Buchpreis.
Kategorie Sachbuch/Essayistik: Uljana Wolf ist auch Übersetzerin
Die siebenköpfige Jury unter der Leitung von Insa Wilke zeichnete zudem die Schriftstellerin und Übersetzerin Uljana Wolf für ihr Werk Etymologischer Gossip – Essays und Reden mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik aus.
Begründung der Jury:
Uljana Wolf hätte in allen drei Kategorien für unseren Preis nominiert werden können, und in allen drei auch mit diesem einen Buch, denn das ist sehr vereinfacht gesprochen ein Sachbuch übers Übersetzen von Lyrik – allerdings höchst komplex geschrieben von einer Poetin, die auch als Übersetzerin renommiert ist.
Wolfs Etymologischer Gossip bietet denn auch sowohl hinreißende Gedichte als auch brillante Übertragungen aus anderen Sprachen. Doch gewonnen hat der Band zu Recht in der Sparte Sachbuch, denn diese Lebensthemensammlung seiner Verfasserin ist ein Musterbeispiel für Essayistik.
Und geradezu übermütig sind Wortgewitzheit und Assoziationsfreude, mit denen Uljana Wolf ans Werk geht. Dieses Sachbuch ist nicht zuletzt ein Lachbuch: Wer wissen möchte, wie eine fröhliche Sprachwissenschaft sich liest, der hat damit die geeignete Lektüre zur Hand. Ihrem Etymologischen Gossip möchte man gar nicht mehr aufhören zu lauschen.
Uljana Wolf versteht sich als Lyrikerin und Übersetzerin. Ihr Werk wurde in über 15 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Peter-Huchel-Preis für ihr Debüt Kochanie, ich habe Brot gekauft (kookbooks, 2005) und dem Arbeitsstipendium der Villa Massimo Rom 2017/18. Zuletzt übersetzte sie mit Michael Zgodzay Gedichte von Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki aus dem Polnischen (Norwids Geliebte, Edition Korrespondenzen 2019).
Kategorie Belletristik: Tomer Gardi schreibt auf Hebräisch und in Broken German
In der Kategorie Belletristik freute sich der gut Deutsch sprechende israelische Autor Tomer Gardi für seinen Roman Eine runde Sache über die bedeutende Auszeichnung. Das von Gardi auf Deutsch und Hebräisch verfasste Werk wurde zur Hälfte von Anne Birkenhauer aus dem Hebräischen übersetzt.
Die Jury in der Laudatio:
Unverschämt, dieser Tomer Gardi. Den ersten Teil seines Romans erzählt er nicht in astreinem Deutsch, sondern in einer Kunstsprache mit eigenartiger Rechtschreibung und merkwürdigem Satzbau. Broken German. Es gibt einen zweiten Teil, oder besser: Es gibt den Roman doppelt. Jetzt hat Tomer Gardi ihn auf Hebräisch geschrieben. Anne Birkenhauer hat ihn ins Deutsche übersetzt. […]
Eine runde Sache ist ein Schelmenstück. Wirklichkeit und Fiktion prallen darin aufeinander wie das Echte und das Gemachte. Dabei spielt Gardi ebenso kunstvoll wie dreist mit Lesegewohnheiten und Erwartungen an einen Roman, zumal an einen deutschsprachigen. „[…] ein Schriftsteller ist jemand, der Schwierigkeiten hat mit die deutsche Sprache“, schreibt er und hinterfragt unser Bedürfnis nach Korrektheit und Geradlinigkeit ebenso wie ästhetische Normen. Dahinter lauert die bittere Frage, wie es einem Menschen überhaupt gelingen kann, seine eigene Sprache zu finden.
Kurzum: „Eine runde Sache“ ist ein großzügiger Roman von hoher sprachlicher Präzision.
Tomer Gardi wurde 1974 im Kibbuz Dan im Norden Israels geboren. Deutsch hat er bereits mit zwölf Jahren gelernt, als er mit seinen Eltern für drei Jahre in Wien lebte, wo er die amerikanische Schule besuchte. Später absolvierte er einen Teil seines literatur- und erziehungswissenschaftlichen Studiums in Berlin. Nach Jahren in der mediterranen Metropole Tel Aviv lebt er inzwischen in Berlin.
2016 erschien sein Roman Broken German, 2019 Sonst kriegen sie ihr Geld zurück (beide im Literaturverlag Droschl). Broken German erhielt als Hörspieladaption 2017 den Deutschen Hörspielpreis, das Hörspiel Die Feuerbringer – Eine Schlager-Operetta wurde von der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zum Hörspiel des Monats Februar 2018 gewählt.
Richard Schneider