Susanne Klingenstein erzählt in ihrem Ende 2022 erschienenen Buch Es kann nicht jeder ein Gelehrter sein erstmals die spannende Geschichte der frühen jiddischen Literatur in den Jahren 1105 bis 1597. Wer jiddische Literatur liebt, kann nun ihre Anfänge kennenlernen.
Im Klappentext heißt es:
Gelacht und gedacht, erzählt und erzogen wurde in jiddischer Sprache seit dem Hochmittelalter. Auf den letzten Blättern gelehrter Bücher finden wir Rezepte, Zaubersprüche und Gebete. Gereimte Epen kursierten in Abschriften zum geselligen Vortrag. Ein Konvolut von 1382 aus Kairo bezeugt, dass Juden mit deutscher Literatur bestens vertraut waren und sie witzig adaptierten.
Aus Geldnot begannen findige Unternehmer im frühen 16. Jahrhundert in Krakau, Augsburg und Venedig mit dem Druck jiddischer Bücher. Jetzt hatten auch Frauen und ungelehrte Männer Zugang zur Bibel und den Religionsvorschriften. Deutsche Reformatoren sahen in jiddischen Bibeln eine Gelegenheit zur Judenmission.
Doch die Verbreitung jiddischer Bücher schürte nicht die Feuer des Aufbruchs, sondern stärkte den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Sie machte die Frauen unabhängiger und selbstbewusster, denn sie kannten nun die Gesetze. Und an langen Sabbatnachmittagen lasen sie von den Abenteuern jüdischer Helden.
In ihrer Einführung schreibt Klingenstein:
Im Jahr 1965 erschien in Zürich ein Band mit Erzählungen des jiddischen Schriftstellers Mendel Mann. Im Vorwort schrieb Manès Sperber: »Die jiddische Literatur ist kaum älter als 100 Jahre; während des ersten Weltkrieges starben ihre Begründer: […] Manche sind eines natürlichen Todes gestorben, andere kamen in der Mitte ihres Volkes um, das die Nazis ausrotteten. Wieder andere sind in Stalins Lagern zugrunde gegangen. Und die besten jiddischen Dichter Europas sind am 12. August 1952 in Moskau erschossen worden.« […]
Es scheint ungeschickt, ein Buch über die dynamischen Anfänge der jiddischen Literatur in den jüdischen Metropolen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit ihrer Todesanzeige zu eröffnen. Doch wer heute in deutscher Sprache ein Buch über jiddische Literatur liest, wird dies meist im Bewusstsein ihres Endes tun. Der Tod aber verstellt den Blick aufs Leben.
Wie keine andere Weltliteratur ist die jiddische Literatur überfrachtet von religiösen und politischen Ideologien und Hoffnungen, von Erwartungen und Vorurteilen. Das ist schon seit dem frühen 16. Jahrhundert der Fall, als christliche Hebraisten und Konvertiten rudimentäre Grammatiken und Wörterbücher zur jiddischen Sprache schrieben, sei es, um die Judenmission zu befördern, sei es, um die Juden zum Schutz der Christen bloßzustellen, sie zu »entdecken«, wie es damals hieß.
Wer sich mit der Geschichte der jiddischen Literatur befasst, hat immer mit einer Doppelhelix zu tun: Auf der einen Seite steht die Entwicklung der jiddischen Literatur selbst, ein gewundener, vielfaseriger Strang, der spätestens im 13. Jahrhundert seinen Anfang nimmt und bis ins Heute reicht. Sein erstes Viertel, die Zeit von etwa 1100 bis 1600, wird in diesem Band beschrieben.
Auf der anderen Seite steht die Wahrnehmung dieser Literatur, ebenfalls ein langer Strang, der im frühen 16. Jahrhundert beginnt. Insbesondere im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts hielt man die jiddische Sprache auch für einen Spiegel der moralischen Korruptheit der Juden. Denn wer »verdorbenes« Deutsch sprach, musste auch selbst verdorben sein.
Dass solche Projektionen möglich waren, hat einerseits mit der Haltung gegenüber Juden zu tun (denn wie man eine Sprache einschätzt, wird bestimmt vom Prestige ihrer Nutzer) und andererseits mit der Besonderheit des Jiddischen, das zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert vermutlich im mitteldeutschen Sprachraum seinen Anfang nahm.
Seit dem 16. Jahrhundert entwickelte es sich in Osteuropa von Riga bis Odessa und von Lemberg/Lviv bis Kiew in verschiedenen dialektalen Varianten zur Alltagssprache der Juden und wurde schließlich auf der ersten jiddischen Sprachkonferenz in Czernowitz 1908 zu einer Nationalsprache der Juden erklärt.
Doch im Gegensatz zu Deutsch oder Französisch fand Jiddisch lange keinen Rückhalt in den Institutionen eines Nationalstaats, die für die Standardisierung von Schreibung, Grammatik und Wortschatz hätten sorgen können.
Allerdings wurde Jiddisch bis Ende des 19. Jahrhunderts auch nicht wie andere nationale Sprachen ideologisch vereinnahmt. Es fehlen im Jiddischen rhetorisches Säbelrasseln und Drohgebärden, aber es fehlten eben lange auch die öffentlichen Reden und politischen Schriften, die einem Volk Konturen verleihen und das nationale Selbstverständnis definieren.
Jiddisch hatte bis 1897, als der Zionismus und die jüdische Arbeiterbewegung erstmals organisiert hervortraten, häuslichen und familiären Charakter. Es wurde bis 1925 von keiner Akademie verwaltet und war darum als Sprache auf ganz eigene Weise frei.
Susanne Klingenstein, geboren 1959 in Baden-Baden, ist Research Fellow am Zentrum für Jüdische Studien an der Harvard University.
Sie veröffentlichte Studien zur Identitätsbildung jüdischer Literaturwissenschaftler, übersetzte bedeutende Erzählungen aus dem Jiddischen, schrieb ein Buch über Martin Walser und zuletzt die Studie Mendele der Buchhändler – Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh – Eine Geschichte der jiddischen Literatur zwischen Berdichev und Odessa, 1835-1917.
Bibliografische Angaben
- Susanne Klingenstein (2022): Es kann nicht jeder ein Gelehrter sein. Eine Kulturgeschichte der jiddischen Literatur 1105-1597. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag. 633 Seiten, 50,00 Euro, ISBN 978-3-633-54322-9. Auf Amazon ansehen/bestellen.
Richard Schneider