Der Gemeinderat der Stadt Stuttgart hat am 12. Oktober 2023 dem Vorschlag der Jury zur Verleihung des 20. „Johann‐Friedrich‐von‐Cotta‐Literatur‐ und Übersetzungspreises“ an die Schriftstellerin Svenja Leiber für ihren Roman Kazimira und an den Übersetzer Thilo Diefenbach für das von ihm herausgegebene Werk Zwischen Himmel und Meer – eine Anthologie taiwanischer Literaturen zugestimmt.
Der Preis ist mit insgesamt 20.000 Euro dotiert und wird zu gleichen Anteilen zwischen den beiden Preisträgern aufgeteilt. Der Cotta‐Preis wird seit seiner Gründung im Jahr 1978 als Auszeichnung für herausragende deutschsprachige Literatur und Übersetzung verliehen.
Literarische Brücken von Taiwan nach Deutschland
Die Entscheidung für das Werk Thilo Diefenbachs begründet die Jury wie folgt:
Diefenbachs Anthologie versammelt Gedichte und Legenden, Essays, Erzählungen und Romanauszüge. Und zwar nicht nur auf Mandarin, wie die wenigen anderen deutschsprachigen Anthologien von Literatur aus Taiwan, die sich auf die Nachkriegszeit konzentrieren, sondern er übersetzt Texte aus mehreren Jahrhunderten aus dem Mandarin und klassischem Chinesisch, aus dem Taiwanischen und dem Japanischen.
Von Taiwan wissen wir vor allem, dass es sich nicht als ‚chinesisch‘ im Sinn der Volksrepublik China identifiziert. Von Thilo Diefenbach lernen wir, was das in den Literaturen bis heute bedeutet.
Sein Respekt vor der Widerständigkeit der Insel gegenüber dem Festland zeigt sich auch darin, dass er eine Umschrift benutzt, die ausdrücklich anders vorgeht als die in China favorisierte. Es sind diese Superlative der kulturellen Vermittlungsleistung von Thilo Diefenbach und seinen Mitarbeitenden, die mit dem Cotta‐Preis für Übersetzung ausgezeichnet werden.
Das Jurymitglied Verena Lueken schreibt:
Zwischen Himmel und Meer ist eines der erstaunlichsten Bücher nicht nur dieses Jahres. Mehr als hundert Texte, aus mündlicher wie schriftlicher Überlieferung in den verschiedenen Sprachen, die in Taiwan gesprochen wurden und werden, sind in dieser einmaligen Sammlung enthalten. Thilo Diefenbach hat sie zusammengestellt und die Texte zum überwiegenden Teil auch übersetzt und kommentiert – eine veritable Pionierleistung.
Was wüssten wir ohne seine gewaltige Anstrengung von den verschiedenen Versionen der Legenden von der Frau, die sich erhängte, als sie sitzengelassen wurde, in der flüchtigen Gestalt eines Geistes aber zurückkehrte und geduldig auf den Augenblick der Rache wartete, wobei einem Sonnenschirm eine besondere Bedeutung zukam? Was von der Ironie eines Ch’en Ch’ien-wu in seinem Gedicht Verzeiht mir meine Dreistigkeit, gerichtet an Chiang-Kai-shek? Was wüssten wir überhaupt von den Literaturen Taiwans? Von der Pluralität der Formen und Genres?
Diefenbachs Anthologie versammelt Gedichte und Legenden, Essays, Erzählungen und Romanauszüge. Und zwar nicht nur auf Mandarin, wie die wenigen anderen deutschsprachigen Anthologien von Literatur aus Taiwan, die sich auf die Nachkriegszeit konzentrieren, sondern er übersetzt Texte aus mehreren Jahrhunderten aus dem Mandarin und klassischem Chinesisch, aus dem Taiwanischen und dem Japanischen. Und in dem wunderschön gestalteten Buch finden sich neben der lateinischen Umschrift von Titeln, Ortsnamen und Verfassern auch die originalen Schreibweisen – ein vorbildlicher Umgang mit den Texten, um die es geht.
Von Taiwan wissen wir vor allem, dass es sich nicht als „chinesisch“ im Sinn der Volksrepublik China identifiziert. Von Thilo Diefenbach lernen wir, was das in den Literaturen bis heute bedeutet. Sein Respekt vor der Widerständigkeit der Insel gegenüber dem Festland zeigt sich auch darin, dass er eine Umschrift benutzt, die ausdrücklich anders vorgeht als die in China favorisierte.
Es sind diese Superlative der kulturellen Vermittlungsleistung von Thilo Diefenbach und seinen Mitarbeiter:innen, die mit dem Cotta-Preis für Übersetzung ausgezeichnet werden.
Diefenbach ist als promovierter Sinologe engagierter Kulturvermittler
Thilo Diefenbach wurde 1975 geboren, studierte Sinologie und Germanistik in Frankfurt und hat 2004 an der Kölner Universität promoviert. Seine Dissertation Kontexte der Gewalt in moderner chinesischer Literatur erschien 2004. Zu seinen Buchpublikationen zählen die Anthologie Kriegsrecht – Neue Literatur aus Taiwan (iudicium 2017) und Gedanken in Weiß sowie Gedichte von Cheng Chiung‐ming (iudicium 2019).
Neben der Literatur Taiwans widmet er sich auch der vormodernen Literatur Chinas. 2012 beispielsweise erschien sein Band Zwischen Engagement und Resignation: Auszüge aus dem Yulizi und anderen Texten von Liu Ji (1311−1375) beim Ostasien‐Verlag.
Er war für mehrere Jahre Redakteur bei der Zeitschrift ASIEN und ist ständiger Mitarbeiter der Hefte für Ostasiatische Literatur. Seine neueste Anthologie Zwischen Himmel und Meer (iudicium 2022) unternimmt einen Streifzug durch die thematische und sprachliche Vielfalt der taiwanischen Literaturgeschichte.
„Eine Anthologie, die nicht übertroffen werden wird“
Die über hundert Beiträge in diesem Buch sind aus vier Sprachen übersetzt (Mandarin, klassisches Sinitisch, Japanisch, Taiwanesisch) und durchweg ausgiebig kommentiert. Es gewährt somit einen tiefen Einblick in die sprachliche, formale und inhaltliche Vielfalt der taiwanischen Literaturen.
„Thilo Diefenbach hat mit der Genauigkeit des Übersetzers und der Hingabe des Liebhabers Taiwans literarische Landkarte gezeichnet. Entstanden ist ein Kompendium, das Abgründe von Jahrhunderten durchquert – und eine Anthologie, die nicht übertroffen werden wird.“ – Paul Ingendaay
Der Verlag schreibt im Klappentext:
Mit diesem Buch legt Thilo Diefenbach ein Panoptikum der taiwanischen Literaturen vor – das erste überhaupt in einer westlichen Sprache.
Die Anthologie setzt mit Beispielen aus der mündlichen Überlieferung ein, d. h. mit Legenden, Märchen und Sagen der Ureinwohner, aber auch jenen der Einwanderer aus China, die ab dem 17. Jahrhundert vermehrt nach Taiwan kamen.
Darauf folgt die frühe schriftlich festgehaltene Literatur: Eine Dichtung, die sich formal durchweg an den klassischen Mustern der chinesischen Tradition orientierte, aber inhaltlich zunehmend eigene Züge aufwies, etwa in der Beschreibung der Landschaften und der Ureinwohner Taiwans.
Weitere Texte belegen, wie Anfang des 20. Jahrhunderts die literarische Moderne Einzug in Taiwan hielt, wobei nicht nur China, sondern auch Japan und christliche Missionare eine Rolle als Vermittler spielten.
In diesem Zeitraum machte sich die Mehrsprachigkeit Taiwans auch im Schriftbild bemerkbar: sinitische Schriftzeichen, japanische Silbenalphabete und lateinische Buchstaben wurden parallel verwendet.
Politische Zwangsmaßnahmen unter der japanischen Herrschaft (1895–1945) ebenso wie unter dem Kriegsrecht, das die Regierung der Republik China bis 1987 über Taiwan verhängte, verhinderten lange Zeit eine freie Entwicklung der Literatur und auch der in Taiwan gebräuchlichen Sprachen.
Dass dennoch interessante Werke erscheinen konnten, will dieser Band mit weiteren Textbeispielen belegen. Erst seit dem Beginn der Demokratisierung in den späten 1980er Jahren können sich Literatur und Sprachen wieder frei entfalten.
Preisverleihung im Rathaus
Der Jury gehörten – neben den Mitgliedern des Gemeinderats Dr. Christine Lehmann, Jürgen Sauer und Dejan Perc – die Übersetzerin Larissa Bender, die Schriftstellerin Anna‐Katharina Hahn, der Lektor und Schriftsteller Martin Kordić und die Literaturkritikerin Verena Lueken sowie – als Vorsitzender – der Erste Bürgermeister Dr. Fabian Mayer an.
Die festliche Preisverleihung an Autorin und Übersetzer findet am 14. November um 19:00 Uhr im Großen Sitzungssaal des Stuttgarter Rathauses statt.
Neda Pouryekta (Kulturamt Stuttgart)