Sprachenpolitik gegenüber Migranten in Deutschland, Frankreich und Italien im Vergleich

Zugvögel
Bild: Rihaij / Pixabay

Wie verfahren die drei EU-Länder Frankreich, Italien und Deutschland sprach- und bildungspolitisch, um die sprachliche Teilhabe von Migranten zu sichern?

Die recht unterschiedlichen historischen Immigrationserfahrungen, Sprachenkonstellationen und kulturpolitischen Strukturen machen einen differenzierten Ländervergleich erforderlich, in dem auch die jeweilige Entfaltung der Kategorien „Inklusion“ und „Integration“ zu berücksichtigen ist.

Im 2024 erschienenen Band Sprachliche Teilhabe Migrierter – Sprachenpolitik in Deutschland, Frankreich und Italien im Vergleich stellen erstmals informative Einzelbeschreibungen die sprachliche Erwachsenenbildung und die (vor-)schulische Sprachenbildung sowie Qualitätssicherung durch Lehrkräfteausbildung landesweise dar.

Im Ergebnis wird ein vergleichender Überblick an Maßnahmen geboten, der zudem drei unterschiedliche Zugriffe auf die gegenwärtige Herausforderung und ihre Problemlösung erkennbar macht.

Die linguistisch fundierten Beiträge gehen auf eine trilaterale Konferenzserie zurück, die in der Villa Vigoni stattfand, dem Deutsch-Italienischen Zentrum für den Europäischen Dialog.

Inhalt

  • Angelika Redder (Einleitung): Kontext der Fragestellung, kategorialer Zugriff und Struktur des trilateralen Vergleichs
  • Cyrille Granget: Sprachenpolitik in Frankreich
  • Susanne Lippert, Rossella Pugliese, Stephanie Risse: Italien – sprachliche Teilhabe durch Inklusion
  • Konrad Ehlich, Angelika Redder, Heike Roll: Bundesrepublik Deutschland – sprachliche Teilhabe als gesellschaftliche und Bildungsaufgabe
  • Angelika Redder: Vergleichendes Fazit und Desiderate
  • Autoren
Sprachliche Teilhabe Migrierter
Bild: Waxmann

Sprachen der Migranten haben nicht den Status von Minderheitensprachen

Angelika Redder schreibt in der Einleitung:

Die drei westeuropäischen Länder Deutschland, Frankreich und Italien sind aktuell politisch mit erheblichen Migrationsbewegungen und Neuzuwanderungen konfrontiert. Diese gemeinsame Konstellation betrifft in der Gegenwart Migrationsformen gleicher Art.

Dies sind zunächst – in quantitativ allerdings bemerkenswerter Differenz zwischen den Ländern – die ökonomisch gesteuerte Arbeitsmigration (sog. „Gastarbeitermigration“ in Deutschland) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die auf Freizügigkeit basierte Migration innerhalb der EU.

Sodann sind dies seit Ende des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts eine wachsende Migrationsbewegung aufgrund politischer und ökonomischer Destabilisierung (z. B. der staatlichen Auflösung Jugoslawiens) sowie erkennbar ab 2015 Neuzuwanderungen durch die Asylmigration („Flüchtlingskrise“) aus Kriegsgebieten im Nahen und Fernen Osten, vornehmlich aus Syrien und Afghanistan. Neuerdings kommen verstärkt Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine hinzu.

Um den Umgang mit den daraus resultierenden Erfordernissen nicht zuletzt für die sprachliche Integration von Migrierten verstehen und einschätzen zu können, sind jedoch die jeweils besonderen politischen Strukturgrundlagcn und mentalen Ausgangskonstellationen in Erinnerung zu rufen, die aus verschiedenen historischen Vorgeschichten in den Ländern resultieren. Deshalb seien die wichtigsten geschichtlichen Entwicklungsstränge knapp skizziert.

Seit dem Zweiten Weltkrieg haben westeuropäische Staaten in verschiedenem Ausmaß und Format auf wiederum unterschiedliche Arten der Immigration reagiert. Langjährige (Ex-)Kolonialstaaten wie Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und Belgien sowie auch Italien – das im Übrigen (ökonomisch bedingt) bis in die 1970er Jahre eher Auswanderungsland war (Finotelli 2022) – weisen diesbezüglich bis heute Strukturerfahrungen auf, die sich von Deutschland mit seiner demgegenüber kurzfristigen kolonialen Vorgeschichte unterscheiden.

[…] Die seinerzeitige Migration aus ehemaligen Kolonialstaaten in die Staaten der Ex-Kolonisatoren konnte weithin bearbeitet werden, indem sprachliche Teilhabemöglichkeit der Migrantinnen und Migranten einfach präsupponiert wurde. Denn die kolonialen Sprachpolitiken hatten vor Ort meist die Kolonialsprache als Amtssprache etabliert […].

Wie verfährt nun Westeuropa, vor dem Hintergrund der geschichtlich differenten Ausgangskonstellationen, mit den geteilten Migrationen und Neuzuwanderungen integrationspolitisch? Wie wird angesichts der faktischen gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit durch Einwanderung insbesondere eine Sicherung der sprachlichen Partizipation am jeweiligen gesellschaftlichen Leben gewährleistet? […]

Man könnte EU-weite Ähnlichkeiten oder gar Übereinkommen erwarten. Jedoch hat bis heute die Feststellung von Utz Maas ihre Gültigkeit behalten: „Im Gegensatz zu dem oft zu Lesenden hat die EU keine eigenständige Sprachpolitik, geschweige denn eine genuine Mehrsprachigkeits-Politik.“ (2008, 211). Zwar dürfen die Sprachen der EU-Mitgliedsstaaten nicht benachteiligt bzw. diskreditiert werden, denn in der Charta der Grundrechte, die mit dem Lissabon-Vertrag des Europäischen Parlamentes von 2007 (in Kraft seit 01.12.2009) bekräftigt wird, heißt es in Art. 22: „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Regionen und Sprachen“ (Charta der Grundrechte, am 26.10.2012 vom EU-Parlament proklamiert). Aber die Vielfalt der sprachlichen Realität ist keineswegs Gegenstand konkreter Bestimmungen.

Eine 2009 gefasste Entschließung der anderen internationalen europäischen Organisation, nämlich des Europarates, bleibt zum Phänomen der Mehrsprachigkeit ebenfalls sehr vage und ist bezogen auf die EU ohnehin unverbindlich. So können als konstruktive gemeinsame Unternehmung der EU lediglich angeführt werden: das sprachbezogene „1+2-Prinzip“, also die Maxime, als EU-Bürger neben der Erstsprache mindestens über 2 weitere Sprachen zu verfügen, sowie das symbolische Bekenntnis zur sprachlichen Vielfalt durch Etablierung eines „Europäischen Tags der Sprachen“ in Nachfolge des erfolgreichen „Jahrs der europäischen Sprachen 2001“.

Nur vermittelt – eben über die zitierte Grundrechte-Charta – genießen die je territorial anerkannten Minderheitensprachen einen seitens des Europäischen Parlamentes verbindlichen Sprachenschutz. […] Die häufig genannte Europäische „Charta der Regional- und Minderheitensprachen“, die der Europarat bereits 1992 beschlossen hatte, bleibt EU-rechtlich, wie auch die zur Mehrsprachigkeit oben angeführte Europarats-Entschließung, unverbindlich […].

Diese Charta unterzeichneten (mit Stand von 2017) 25 Mitgliedsstaaten – allerdings mit sehr zögerlicher Umsetzung: Diese aus dem Rat, nicht dem Parlament stammende Charta wurde z. B. von Deutschland bereits 1992 unterzeichnet sowie 1998/99 ratifiziert und in Kraft gesetzt, von Frankreich jedoch erst 1999 und von Italien gar erst 2000 unterschrieben, in beiden Ländern allerdings bis dato nicht ratifiziert.

In keinem der Staaten gehören die Sprachen der (in der Gegenwart zugewanderten) Migrantinnen und Migranten mit in den Bereich dieser Minderheitensprachen. […]

Die Länderdarstellungen sind inhaltlich vergleichbar organisiert. Thematisch behandeln sie durchgehend drei Schwerpunkte:

I. allgemein gesellschaftliche Bedingungen und Maßnahmen
II. bildungspolitische Maßnahmen
III. Qualitätssicherung

Unter I. werden neben den einschlägigen historisch-gesellschaftlichen Vorbedingungen und aktuellen Konstellationen vor allem die sprachpolitischen Maßnahmen in der Erwachsenenbildung, also jenseits der Schulpflicht, dargelegt.

Die Länder unterscheiden sich, neben den eingangs bereits ausgeführten Vorgeschichten, in diesem thematischen Sektor deutlich: Frankreich und Italien weisen – bis in die Vorhaltung von Sprachakademien hinein’ – eine grundsätzlich zentralistische Sprachpolitik auf, während Deutschland gerade im Bildungsbereich ein strikt föderativer Staat ist, so dass faktisch 16 Länderpolitiken (nämlich zehn bzw. elf (Berlin) der alten BRD und nach dem Beitritt des Ex-DDR-Gebiets fünf neuer Bundesländer) zu verfolgen und beständige Bund-Länder-Kontroversen zu berücksichtigen sind.

Bibliografische Angaben

  • Angelika Redder (Hg., 2024): Sprachliche Teilhabe Migrierter. Sprachenpolitik in Deutschland, Frankreich und Italien im Vergleich. Münster: Waxmann.
    Band 25 der Reihe Sprach-Vermittlungen mit Beiträgen von Konrad Ehlich, Cyrille Granget, Susanne Lippert, Rossella Pugliese, Angelika Redder, Stephanie Risse, Heike Roll. 174 Seiten, Buch 27,90 Euro (E-Book 24,99 Euro), ISBN 978-3-8309-4768-4.

red