„Flüchtling“ – zur Karriere eines Begriffs. Uni Osnabrück pflegt „Inventar der Migrationsbegriffe“

Flüchtling
Bild: Richard Schneider

Bis in die 1960er Jahre bezog sich der Begriff Flüchtling vor allem auf geflüchtete Deutsche, erst danach auf als nicht-deutsch geltende Migranten. Je nachdem, wer mit dem Begriff bezeichnet wurde, war er mal negativ und mal positiv besetzt.

Begriffe sind keine reinen Buchstabenfolgen, sondern drücken politische Macht aus und entwerfen oder verwerfen Zukunftsvorstellungen. Wie und warum sich die Bedeutung von Begriffen verschiebt, zeigt das „Inventar der Migrationsbegriffe“, das am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück erarbeitet wird.

Im Mittelpunkt der aktuellen Debatten in Politik, Öffentlichkeit und Medien über Flucht und Migration steht der oft kritisierte Begriff Flüchtling. Ein Blick in das 20. Jahrhundert zeigt jedoch, dass unterschiedliche Menschen und Gruppen als Flüchtlinge bezeichnet und bewertet wurden.

Der kürzlich im „Inventar der Migrationsbegriffe“ erschienene Beitrag des Migrationsforschers Prof. Dr. Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück und der Historikerin Prof. Dr. Isabella Löhr vom Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), Potsdam, beleuchtet die Karriere dieses Begriffs. Der Beitrag ist aus der Arbeit des seit Anfang 2024 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Sonderforschungsbereichs ‚Produktion von Migration‘ am IMIS hervorgegangen.

Nach dem 1. und 2. Weltkrieg waren deutsche Volksangehörige Flüchtlinge

Jochen Oltmer erläutert:

Der Erste Weltkrieg löste große Fluchtbewegungen aus: Bis in die 1920er Jahre waren in Europa 13 Millionen Schutzsuchende auf der Flucht. In dieser Zeit ging der damals neue Begriff Flüchtling in den allgemeinen Sprachgebrauch ein.

In der Weimarer Republik kam es dann zur Abwanderung aus den Gebieten des Deutschen Reiches, die aufgrund des Friedensvertrages von Versailles abgetreten werden mussten.

Als Flüchtlinge wurden in der Regel deutsche Staatsangehörige oder Volksdeutsche bezeichnet, die u. a. aus Elsass-Lothringen, Posen oder Westpreußen zuwanderten.

Isabella Löhr ergänzt:

Angesichts der im Zweiten Weltkrieg ab 1944 vorrückenden sowjetischen Armee wurde der Begriff Flüchtling populärer und bezog sich vor allem auf die aus Osteuropa fliehenden Deutschen. In der frühen Nachkriegszeit wurde der Begriff dann skeptisch bis ablehnend gebraucht.

Gleichzeitig konkurrierten verschiedene Begriffe wie Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte in öffentlichen Debatten und Gesetzestexten. Sie waren politisch umkämpft und transportierten unterschiedliche Vorstellungen von Flucht.

Im Jahr 1954 nahm der Brockhaus als wichtigste deutschsprachige Enzyklopädie das Wort Flüchtling erstmals auf und bezog es vor allem auf deutsche Staatsangehörige: Von Ostflüchtlingen oder Heimatvertriebenen war nun die Rede.

Seit Ende der 1960er Jahre werden eher Migranten als Flüchtlinge bezeichnet

Oltmer:

Ende der 1960er Jahre vollzog sich dann ein grundlegender Wandel: Der Begriff Flüchtling wurde zunehmend für Migranten verwendet, die nicht als Deutsche galten. Der Schwerpunkt lag nun auf den „ausländischen Flüchtlingen“, die aber als ein Problem dargestellt wurden, mit dem sich internationale Organisationen zu beschäftigen hätten, nicht deutsche Stellen.

Löhr fährt fort:

In den 1970er Jahren stieg die Zahl der Asylsuchenden, was zu kontroversen Debatten über Migration führte. Zwischen 1976 und 1980 verzehnfachte sich die Zahl der Asylgesuche nahezu. Insgesamt war der Begriff Flüchtling in den 1970er und 1980er Jahren meist positiv besetzt und auf Menschen bezogen, die im Kontext das sogenannten Kalten Krieges aus Osteuropa kamen und die Überlegenheit des Westens zu symbolisieren schienen.

Prof. Dr. Oltmer setzt hinzu:

Schutzsuchende aus anderen Teilen der Welt, vor allem jene aus dem Globalen Süden, hingegen wurden oft angefeindet. Sie wurden mit dem extrem negativ besetzten Begriff des Asylanten bezeichnet.

Davon zeugen unter anderem die vielen negativen Wortschöpfungen wie Asylproblem, Asylbetrüger oder Asyltourismus oder katastrophendrohende Begriffe wie Asylantenstrom, –schwemme, –druck, –flut, –lawine, –zeitbombe.

„Es wurde also rassistisch sortiert“, so Prof. Oltmer weiter. „Wer aus Osteuropa kam, war eher Flüchtling, wer aus Asien oder Afrika kam, wurde eher als Asylant abgewertet.“

Behauptete negative Konnotationen der Endung –ling lassen sich nicht belegen

Im Jahr 2015 wurde das Wort Flüchtling zum Wort des Jahres gewählt. Dabei war schon lange kritisiert worden, dass die Endung –ling negativ konnotiert sei. Seit Anfang der 2010er Jahre etablierte sich daher der Alternativbegriff Geflüchteter.

Isabella Löhr: „Der Bedeutungsverlust von Flüchtling und die Karriere anderer Bezeichnungen sind jedoch wissenschaftlich nicht hinreichend erklärt. Zumal die Endung –ling laut Sprachwissenschaft keineswegs überwiegend negativ konnotiert ist.“ Nicht das Wort sei das Problem, sondern welche Bedeutung ihm in gesellschaftlichen Aushandlungen zugewiesen werde.

„Inventar der Migrationsbegriffe“ als interdisziplinäres Nachschlagewerk

Das „Inventar der Migrationsbegriffe“ ist ein interdisziplinäres Nachschlagewerk für zentrale Begriffe aktueller und historischer Migrationsdebatten. Es zeigt, wie sich Begriffe wie Flüchtling, Asylsuchender oder People of Color entwickelt haben, wie sie benutzt und gemacht worden sind. Es will keine eindeutigen Definitionen liefern, sondern Perspektiven aufzeigen – und damit Bewusstsein und Verantwortung für Sprache fördern.

Das Inventar wurde Anfang 2022 von der Nachwuchsgruppe „Die wissenschaftliche Produktion von Wissen über Migration“ am IMIS ins Leben gerufen.

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Dr. Oliver Schmidt (Universität Osnabrück)