Ein erschreckendes Beispiel für verlegerische Feigheit sind die Ereignisse rund um die Wahl zum Wort des Jahres 2024 in den Niederlanden. Nachdem dort zwei Ausdrücke in die engere Wahl kamen, die einige Aktivisten für problematisch halten, knickte der renommierte Wörterbuchverlag van Dale vor den Schreihälsen in den Sozialen Medien ein und brach die Wahl ab.
Kontroverse über pieperaanval und transitiespijt
Eines der beiden umstrittenen Wörter ist pieperaanval (Pager-Angriff). Der israelische Geheimdienst versetzte mit der Aktion die Führungsriege der Terrororganisation Hamas in Angst und Schrecken und machte sie handlungsunfähig.
Das zweite Wort ist transitiespijt (Transitionsbedauern). Es beschreibt die Tatsache, dass immer mehr Jugendliche, die sich zu einer Geschlechtsumwandlung haben überreden lassen, diesen irreversiblen Schritt bitter bereuen. In den Medien häufen sich Berichte von Betroffenen, die über die gesundheitlichen Schäden berichten, die sie durch Pubertätsblocker, dauerhafte Hormongaben und Operationen davongetragen haben. Unfruchtbarkeit und ein erhöhtes Krebsrisiko sind nur zwei davon. Zudem zeigen Studien, dass die extrem hohe Selbstmordrate unter den Betroffenen nach „geschlechtsangleichenden“ Maßnahmen nicht sinkt, sondern steigt.
Aktivisten machten mobil
Die bloße Benennung der Pager-Attacke rief pro-palästinensische Aktivisten auf den Plan, die offenbar befürchteten, mit der Aufnahme des Worts in die Auswahlliste werde die israelische Aktion verherrlicht.
Und die Thematisierung des Umstands, dass nicht wenige derjenigen, die eine Transition zum anderen Geschlecht durchlaufen haben, dies bereuen, veranlasste mehrere Organisationen der LGBTQIA+-Lobby, dazu aufzurufen, auf keinen Fall für transitiespijt zu stimmen.
Diese Boykott-Aufrufe wurden wiederum von anderen zum Anlass genommen, bei der Online-Abstimmung jetzt erst recht für die umstrittenen Benennungen zu stimmen und dafür zu werben.
Der Verlag musste beobachten, wie die Debatte in den Sozialen Medien hochkochte. Schließlich brach van Dale die Wahl ab, da sich abzeichnete, dass die Ergebnisse der Online-Abstimmung massiv verzerrt sein würden.
Stattdessen kürte man kurzerhand das Wort polarisatie (Polarisierung) zum niederländischen Wort des Jahres 2024. Das stand zwar nicht auf der Liste, aber es charakterisiert laut van Dale sowohl die Reaktionen im Rahmen der diesjährigen Wort-des-Jahres-Wahl als auch das abgelaufene Jahr insgesamt.
Der Verlag löschte die zehn Ausdrücke umfassende Auswahlliste und veröffentlichte abschließend folgende Mitteilung:
Van Dale bricht Wahl zum Wort des Jahres 2024 in den Niederlanden ab
Die Wahl zum Van-Dale-Wort des Jahres soll Rückschau halten auf das, was sich im vergangenen Jahr in der Sprache verändert hat. Die nominierten Wörter vermitteln einen Rückblick auf die sprachlichen Entwicklungen im Jahr 2024.
Die Wahl wurde in den letzten Tagen von verschiedenen Kampagnengruppen unterwandert, die dazu aufriefen, für bestimmte Wörter zu stimmen bzw. nicht zu stimmen. Die Botschaften rund um diese Wörter sind zu einer sehr unangenehmen gesellschaftlichen Diskussion ausgeartet, und damit hat die Wahl ihr Ziel verfehlt. Die Reaktionen sind in diesem Jahr noch heftiger als in anderen Jahren. Aus diesem Grund hat Van Dale beschlossen, die Wahl zum Wort des Jahres 2024 in den Niederlanden zu stoppen.
Stattdessen entscheidet sich Van Dale in diesem Jahr für ein Wort, das das gesamte Jahr charakterisiert. Nach den heftigen Reaktionen auf die diesjährige Wahl, die dem Zeitgeist geschuldet sind, lautet das Van Dale Wort des Jahres 2024 in den Niederlanden: Polarisierung.
Top Ten der Wörter des Jahres 2024 in den Niederlanden
Der Verlag hatte zuvor folgende zehn Ausdrücke zur Wahl gestellt (in alphabetischer Reihenfolge):
- AI-washing: Marketingstrategie, bei der die Bedeutung oder die Auswirkungen von KI auf ein Produkt oder ein Unternehmen stark übertrieben werden.
- beknibbelflatie: Form der Inflation, bei der teure Zutaten bei der Herstellung eines Produkts durch billige Zutaten ersetzt werden.
- burn-outbureaucratie: Burn-out-Bürokratie, die aus einer langfristigen Überlastung des öffentlichen Dienstes resultiert.
- comfortwater: Leitungs- bzw. Trinkwasser, das benutzt wird, um eine private Wohlfühloase zu schaffen, z. B. um den Rasen in einem trockenen Sommer grün zu halten oder einen Swimmingpool zu betreiben.
- gen Z-stagiair: Auszubildender aus der Generation Z, der eine von Social-Media-Jargon geprägte Sprache spricht und daher von seinen meist älteren Kollegen kaum oder gar nicht verstanden wird.
- koeltekloof: Soziale Kühlungs-Kluft zwischen Menschen, die finanziell in der Lage sind, ihre Wohnungen mit Klimaanlagen zu kühlen, und solchen, die das nicht können.
- pieperaanval: Anschlag mit Pagern, in die Sprengstoff eingebaut wurde.
- profnar: Zusammenziehung aus „professioneller Hofnarr“. Jemand, der angeheuert wird, um die Leistung von Unternehmen und Organisationen zu bewerten, zu kritisieren und Schwachstellen aufzudecken.
- sjoemelscooter: Schummel-Scooter, scherzhafte Bezeichnung für ein so genanntes Fatbike.
- transitiespijt: Drückt das Bedauern von Transsexuellen oder Transgender-Personen aus, die ihren Transitionsprozess bereuen.
Ein weiterer Sieg der Cancel Culture
Wir halten die Entscheidung, die Wahl abzubrechen, für grundsätzlich falsch. Was der Verlag offenbar noch nicht erkannt hat: Viele hitzige Debatten in den Online-Foren sind Stürme im Wasserglas bzw. im Elfenbeinturm ohne Verbindung zur gesellschaftlichen Realität. Plattformen wie X, Facebook, Instagram, TikTok und Co. spiegeln nicht „das wahre Leben“ wider, sondern sind eine Art Paralleluniversum, in dem es nicht selten zugeht wie auf dem Schulhof einer „Brennpunktschule“.
Erfahrene Online-Kämpfer wissen: Auf unberechtigte Forderungen darf man nicht eingehen. Man löscht nichts. Vor allem entschuldigt man sich nicht, wenn man nichts falsch gemacht hat. Außerdem: Einen Shitstorm kann man problemlos aussitzen (wie wir aus eigener Erfahrung wissen).
Stattdessen zeigt das traditionsreiche Verlagshaus in diesem Fall Schwäche, indem es die Wahl insgesamt abbläst. Damit hat wieder einmal eine winzige, aber lautstarke Minderheit der Mehrheit ihren Willen aufgezwungen.
Besser wäre es gewesen, die Online-Wahl für ungültig zu erklären und allein der Jury die Entscheidung über die Wahl zum Wort des Jahres zu überlassen – aus der Liste der zehn ursprünglichen Kandidatenwörter. Offenbar hatte die Jury aber selbst Angst, bei einer Entscheidung für die „falschen“ Wörter in den Sozialen Medien verbal verprügelt zu werden.
Richard Schneider