
Wie soll Integration gelingen, wenn Tausende von Flüchtlingskindern und -jugendlichen auf ein Bildungssystem treffen, das auf deren Ankunft kaum vorbereitet ist? Die Bildungsforscherinnen Dr. Jutta von Maurice und Dr. Gisela Will vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) leiten seit 2016 Längsschnittstudien zur Bildungsintegration von Flüchtlingen in Deutschland.
Die Daten von sieben der insgesamt neun Erhebungen stehen für wissenschaftliche Auswertungen bereits zur Verfügung und bilden eine einzigartige Datenbasis über die Situation von geflüchteten Kindern und Jugendlichen im deutschen Bildungssystem.
Vor Kurzem haben sich die beiden Wissenschaftlerinnen zu den Erfolgen, Defiziten und Lehren aus fast 10 Jahren Forschung zum Thema geäußert.
Merkelsche Flüchtlingswelle: „Kitas und Schulen haben Enormes geleistet“
Vor rund zehn Jahren war der Zuzug von Flüchtlingen aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Deutschland auf seinem Höhepunkt. Dr. Jutta von Maurice erklärt dazu:
Es kamen in sehr kurzer Zeit viele Menschen aus Syrien und anderen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens nach Deutschland. Unsere Systeme waren nicht auf diese große Anzahl von Menschen vorbereitet – es fehlte an Unterkünften, an Versorgungsstrukturen und vor allem auch an Bildungsangeboten.
Gerade mit Schulen und Kindergärten wurde damals eine große Hoffnung auf eine schnelle Integration der Geflüchteten verbunden. Uns war es sehr wichtig, in die ganze Diskussion und Gefühlslage empirische Evidenz einzubringen.
Dr. Gisela Will ergänzt:
Die Kitas und Schulen haben sich einer Riesenherausforderung gestellt und heute wissen wir, dass sie Enormes geleistet haben. Nach einer Aufenthaltsdauer von durchschnittlich 2,5 Jahren besuchen 80 Prozent der geflüchteten Kinder aus unserer Stichprobe im Alter von über 4 Jahren eine Kindertageseinrichtung. Diese Besuchsquote ist höher als wir erwartet haben, aber immer noch deutlich niedriger als bei Kindern ohne Migrationshintergrund oder bei Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichte, die schon länger in Deutschland leben.
Der Hauptgrund, den die meisten Eltern dafür angeben, ist, dass sie keinen Platz für ihr Kind bekommen konnten. Hier spielen vor allem die regionale Betreuungsquote und die Aufenthaltsdauer der Familien in Deutschland eine wichtige Rolle.
Nur 30 % erhalten Sprachförderung im Vorschulalter, gemischtes Bild in Grundschule
Und wie sieht es in der Grundschule aus? Dr. Gisela Will:
Da sehen wir ein gemischtes Bild. Für die Kinder, die mit ausreichend Vorlauf zum schulpflichtigen Alter in Deutschland ankommen, funktioniert der Übergang ganz gut. Über 90 Prozent der von uns untersuchten Kinder wurden altersadäquat eingeschult. Nach Einschätzung der Eltern geht die große Mehrheit der Kinder zudem gern in die Schule und hat Freude am Lernen.
Wir sehen aber auch, dass knapp 7 Prozent der Kinder separate Klassen für Neuzugewanderte besuchen. Da stellt sich schon die Frage, warum Kinder, die bereits mehrere Jahre in Deutschland leben, in der Grundschule nicht integriert beschult werden. Sowohl die Zurückstellung als auch die separate Beschulung hängen mit den Deutschkompetenzen der geflüchteten Kinder zusammen.
Umso erstaunlicher ist es, dass im Vorschulalter nur knapp 30 Prozent der Kinder Sprachförderung erhalten haben. Diese Quote ist wesentlich geringer, als wir erwartet hätten.
Schullaufbahn im Schnitt länger als ein Jahr unterbrochen – mit negativen Folgen
Wie lief die Integration an weiterführenden Schulen? Dr. Gisela Will:
Unsere Daten zeigen unter anderem, dass die Schullaufbahn der befragten Jugendlichen aufgrund der Flucht und im Zuge des Ankommens in Deutschland durchschnittlich länger als ein Jahr unterbrochen war. Und danach besuchen sie oft separate Klassen für Neuzuwanderer, weniger anspruchsvolle Schulformen und werden in niedrigeren Klassenstufen beschult, als man dies ihrem Alter nach erwartet hätte.
Flüchtlingskinder holen zwar auf, erreichen einheimisches Niveau aber nicht
Dr. Jutta von Maurice verweist auf die andauernden Defizite im Spracherwerb. Die ausländischen Kinder holen bei den Deutschkenntnissen zwischen den Testzeitpunkten zwar auf, aber sie schließen zu den einheimischen Kindern nicht auf:
Zum ersten Messzeitpunkt bleiben die geflüchteten Kinder unserer ReGES-Studie weit hinter den Wortschatzkompetenzen einer Vergleichsgruppe von Kindern zurück, die schon länger in Deutschland leben. Dies ist zunächst auch nicht verwunderlich. Ein erneuter Deutschtest zwei Jahre später zeigt, dass die geflüchteten Kinder ihren deutschen Wortschatz zwar verbessern konnten – die Vergleichsgruppe hat ihren Wortschatz aber auch weiter ausgebaut.
Wir müssen also leider festhalten, dass die geflüchteten Kinder auch im Zeitverlauf nicht substanziell zu den einheimischen Kindern aufschließen und damit auch mit geringeren Sprachkenntnissen in die Grundschule starten. Die Sprachförderung ist definitiv der Knackpunkt.
Flüchtlingskinder aus Ukraine schneiden weit besser ab
Auf die Geflüchteten aus der Ukraine sind die Erkenntnisse aus den LIfBi-Studien nur bedingt übertragbar. Beispielsweise waren die Bildungsbiografien dieser Gruppe durch die Flucht weniger stark unterbrochen. Gleichzeitig sei das Bildungssystem in Deutschland besser vorbereitet gewesen als es Mitte der 2010er Jahre der Fall war, so Dr. Gisela Will:
Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die einen vergleichsweise hohen Bildungsstand haben, und die nach relativ kurzer Fluchtdauer zu uns gekommen sind – dadurch ist der Bruch in den Bildungsbiografien nicht so groß. Die Systeme in Deutschland waren besser vorbereitet und nach der Pandemie waren auch Online-Angebote viel besser ausgebaut.
Erwerb der deutschen Sprache Schlüsselkompetenz
Was können wir aus den Ergebnissen der Studien über den zukünftigen Umgang mit Geflüchteten lernen? Dr. Jutta von Maurice:
Die große Notwendigkeit des Deutschspracherwerbs als Schlüsselkompetenz und unsere Beobachtung, dass Zweitspracherwerb doch lange dauert und gezielter Förderung bedarf.
Und ganz klar können wir sagen: Integration passiert nicht von allein – die pädagogischen Fachkräfte in Kindergärten und Schulen müssen unterstützt werden in den Aufgaben, die wir ihnen als Gesellschaft übertragen. Sei es durch Weiterbildung oder durch Anerkennung ihrer Leistung.
Die Gesellschaft in Deutschland wird immer heterogener und dies spiegelt sich auch in den Klassenzimmern und Kindertageseinrichtungen wider. Eine bessere Ausstattung der Bildungseinrichtungen mit gut qualifiziertem Personal würde nicht nur geflüchteten, sondern allen Kindern und Jugendlichen in unserem Land zugutekommen.
Hintergrund zu den Studien
Die Studie „ReGES – Refugees in the German Educational System“ wurde von Juli 2016 bis Dezember 2021 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) verantwortet. Die Teilnehmer werden in der ebenfalls BMBF-finanzierten Studie „Bildungswege von geflüchteten Kindern und Jugendlichen“ bis Juni 2026 weiter begleitet.
Im Zentrum der beiden Studien steht die Integration von Kindern und Jugendlichen, die als Flüchtlinge in das deutsche Bildungssystem gelangt sind. Es handelt sich dabei um Längsschnittuntersuchungen, die die Familien über einen längeren Zeitraum begleiten. Insgesamt wurden mehr als 2.400 Kinder und mehr als 2.400 Jugendliche aus 5 Bundesländern in die Studie aufgenommen. Auch die Eltern sowie die pädagogischen Fachkräften in Kindergarten bzw. Schule wurden einbezogen. Bisher wurden neun Erhebungen durchgeführt. Die Daten der ersten sieben Erhebungen stehen der wissenschaftlichen Gemeinschaft bereits für Forschungszwecke zur Verfügung.
Die Studien fokussieren zwei Gruppen von Geflüchteten: Die erste setzt sich aus Kindern zusammen, die zum ersten Erhebungszeitpunkt mindestens 4 Jahre alt waren, aber noch nicht in die Schule gingen. Diese Gruppe erlaubt einen Blick auf den Beitrag des Kindergartens, die Grundschulphase und den Übergang in das gegliederte Schulsystem. Die zweite Gruppe sind Jugendliche, die zum Start der Studie zwischen 14 und 16 Jahre alt waren und die sich noch in der Sekundarstufe I im allgemeinbildenden Schulsystem befanden. Bei diesen Jugendlichen steht der Übergang in die Sekundarstufe II, die Berufsausbildung, das Studium und der Eintritt in den Arbeitsmarkt im Zentrum.
PM LIfBi