Nicht nur die Dolmetscherkabinen sind verwanzt: Spionage im Rat der Europäischen Union

Justus-Lipsius-Gebäude
Das Justus-Lipsius-Gebäude in Brüssel. - Bild: JLogan / CC BY 3.0

Im Brüsseler Justus-Lipsius-Gebäude hat der Rat der Europäischen Union seinen Sitz. Dort ist jetzt ein hochentwickeltes Abhörsystem entdeckt worden.

Der gegenwärtige Ratspräsident und griechische Außenminister George Papandreou verurteilte die Spionageaktion. Ironisch wandte er sich an die Lauscher: „So weit hätten Sie nicht gehen müssen. Die EU ist eine völlig transparente Organisation, die alle ihre Stellungnahmen öffentlich macht. Unsere jeweiligen Auffassungen sind bestens bekannt.“

Nach derzeitigem Stand der Ermittlungen sind folgende Delegationen belauscht worden: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien und Österreich.

Abhöranlagen wahrscheinlich bereits beim Bau des Komplexes installiert

Die Abhöranlagen dürften bereits 1995 beim Bau des Komplexes installiert worden sein, denn ein Teil der entdeckten Geräte war in den Beton eingegossen. Sie wurden entdeckt, weil im vergangenen Monat die Telefonleitungen zwischen der Ratszentrale und den Delegationsbüros gestört waren. Daraufhin wurde der Sicherheitsdienst der EU eingeschaltet, der die Wanzen entdeckte. Es handelt sich um hochmoderne Geräte, die sowohl in Besprechungsräumen als auch in den Schaltzentralen der Telefonanlage versteckt waren.

Das Generalsekretariat warnte daraufhin die Mitgliedstaaten und empfahl, aus dem Justus-Lipsius-Gebäude keine vertraulichen Gespräche mehr zu führen. Mittlerweile sind auch mehrere nationale Geheimdienste in die Nachforschungen eingeschaltet worden.

Lauschangriff vermutlich eine Aktion der USA

Lauschangriffe auf EU-Organe haben eine lange Tradition. Immer wieder wundern sich Diplomaten, dass vertrauliche Informationen aus EU-internen Verhandlungen Drittstaaten bis ins Detail bekannt sind.

Auftraggeber der Abhöraktionen sind aller Wahrscheinlichkeit nach befreundete Staaten wie die USA und Israel, die seit Jahrzehnten Freund und Feind systematisch ausspionieren. In Einzelfällen kommt auch die mit amerikanischer Unterstützung in die EU drängende Türkei in Frage.

Die französische Zeitung Le Figaro behauptet, dass hinter der jetzt aufgedeckten Affäre „die Amerikaner“ stecken. Sie beruft sich dabei auf die belgische Polizei. Dominique-Georges Marro, der Sprecher der Ratsverwaltung, sagt dazu: „Wir haben keinerlei Beweis, dass es die Amerikaner waren, aber auch keinen dafür, dass sie es nicht waren.“

EU-Diplomaten sind der Ansicht, dass entsprechende Schuldzuweisungen das transatlantische Klima nur zusätzlich belasten würden. Dieses befindet sich durch den vor wenigen Stunden begonnenen Angriff auf den Irak ohnehin in einem Tief.

Der Rat der Europäischen Union ist das wichtigste Entscheidungsgremium der EU. Er besteht aus Ministern der Mitgliedstaaten. (Der „Rat der Europäischen Union“ darf nicht verwechselt werden mit dem „Europäischen Rat“, der aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten besteht, und dem „Europarat“, der eine internationale Organisation mit rund 40 Mitgliedstaaten ist.)

Bereits 2002 waren im selben Gebäude Abhörgeräte entdeckt worden, die unter anderem in den Dolmetscherkabinen versteckt waren.

[Text: Richard Schneider. Quelle: Die Presse, Stuttgarter Nachrichten, Focus, Wiener Zeitung, news.ch 2003-03-19/20.]