Als Hans Magnus Enzensberger ein Wörterbuch stahl

Hans Magnus Enzensberger
Hans Magnus Enzensberger - Bildverfremdung: UEPO.de

Der Lyriker, Essayist, Herausgeber und Übersetzer Hans Magnus Enzensberger (74) pflegt eine heimliche Leidenschaft: Wörterbücher. Und die begann schon früh im Alter von sieben Jahren – mit einem Diebstahl in der Nürnberger Woolworth-Filiale, wie in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. Dezember 2003 zu lesen ist:

Das Objekt meiner Begierde maß viereinhalb mal dreieinhalb mal einen Zentimeter und war somit klein genug, um in einer Kinderfaust Platz zu finden. Ich besitze es heute noch und blättere manchmal darin, obwohl der rote Einband aus einer Art Kunstpappe ziemlich gelitten hat. Auf dem Titel kündigt das „Liliput-Wörterbuch Deutsch – Englisch“, verlegt bei Schmidt und Günther in Leipzig, einen Vorrat von 12.000 Vokabeln an, und dieses Versprechen wird auf nicht weniger als 607 Dünndruckseiten knapp, aber treuherzig eingelöst.

„Was willst du denn damit?“, bellte ihn der Kaufhausdetektiv an, der den Knirps prompt erwischte. Drei Tage später startete Hans Magnus einen neuen Versuch, sich das Büchlein anzueignen – diesmal erfolgreich. „Das köstliche Herzklopfen, mit dem ich den Tatort verließ, gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen.“

Enzensberger weiter: „Einen Weltkrieg und ein paar Generationen später stehe ich vor einer ganzen Bücherwand mit dickleibigen Wörterbüchern, zu denen ich öfter greife als zu allem andern, was sich im Lauf der Jahre angesammelt hat. Kein Klassiker und kein Bestseller kann es mit ihnen aufnehmen.“

„Kein Millimeter Regalplatz ist dem bornierten Duden zugedacht“

Aber: „Kein Millimeter Regalplatz ist dem bornierten Duden zugedacht; wie dieses Machwerk es fertigbringt, Autoritätshörigkeit, Überheblichkeit und Opportunismus zu verbinden, bleibt sein Geheimnis.“

Viele neuere Wörterbücher leiden seiner Ansicht nach „an Gedächtnisschwund“: „Angeblich obsolete Ausdrücke werden gnadenlos aussortiert; stattdessen japsen sie atemlos den Eintagsfliegen des Augenblicks nach und listen jeden Blödsinn auf, den die Werbefritzen erfinden, kolonisierte Affen, die am liebsten mit einer Art Pidgin-Englisch hantieren.“ Das sagt einer, der lange Jahre im Ausland gelebt hat; in den USA, in Norwegen, in Italien.

Enzensberger übersetzt „gern und viel“. Zum Thema zweisprachige Wörterbücher schreibt er:

Der Übersetzer misstraut auch den prompten Auskünften, die diese Werke zu bieten haben. Allzu eilfertig und umstandslos suggerieren sie Entsprechungen, die ihm vielleicht nicht geradezu falsch, aber doch schwammig oder schief oder sperrig vorkommen. Das ist nicht die Schuld des Bearbeiters; es liegt einfach daran, dass kein fremdes Wort sich mit dem eigenen vollkommen deckt. Deshalb wird jeder, der es auf eine intimere Nähe zum Text abgesehen hat, lieber mit einsprachigen Wörterbüchern arbeiten, weil die einen reicheren Kontext bieten und dem Übersetzer mehr Spielraum lassen.

Enzensbergers Resümee lautet:

Auch wenn das Leben zu kurz ist, um uns in mehr als ein paar der weitläufigen Herbergen anzusiedeln, die der riesige Turm von Babel bereithält – wenigstens besichtigen könnten wir sie, einen verstohlenen Blick hineinwerfen, und sei es mit Hilfe jener dickleibigen Folianten, die doch nie alles verzeichnen können, was der Menschheit alles einfällt. […]
So […] weide ich mich, mögen sie Liliputaner sein oder Riesen, an meinen Wörterbüchern und gebe mich, wenn ich nichts Besseres zu tun habe, träumerisch ihrem Zauber hin.

Richard Schneider