Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel beklagt diese Woche in seiner Titelgeschichte die „Verlotterung der Sprache“ (Heft 40/2006). Autor Mathias Schreiber beschreibt auf 15 Seiten durchaus treffend den aktuellen Stand der Diskussion und stellt Sprachverhunzer und Sprachpfleger vor.
„Ausgerechnet der Spiegel!“, mag es da manchem Sprachinteressierten entfahren. Denn schon 1984 bescheinigte „Stilpapst“ Wolf Schneider dem Nachrichtenmagazin, „mit seinen Manierismen seit Jahrzehnten der oberste Verhunzer der deutschen Sprache“ zu sein. Schneider schrieb damals in seinem Buch Deutsch für Profis – Wege zu gutem Stil:
Ohne Mätzchen schreiben, nicht mit Wörtern protzen, nicht auf Glatzen Löckchen drehen – das ist eine klare Regel, über die alle Stilisten von Rang und alle Lehrer der Stilkunst sich einig sind. […]
„Absicht und Zwang, auf möglichst wenig Raum möglichst viel mitzuteilen, zwingt im Deutschen zu Spracherfindungen, die sich um Purismus nicht immer kümmern können“, schrieb der Spiegel zu einem der vielen Angriffe auf sein verquastes Deutsch (6/1973). Die Kürze also – und absolut kein Stilwille soll es sein! Eine Schutzbehauptung, die leicht widerlegbar ist.
Ein Musikverleger untersuchte, ob sich mit der „Internationalen“ noch Geld verdienen lasse – hätte man sagen können; doch der Spiegel schrieb: Der Verleger prüfte „die kommerzielle Melkbarkeit der roten Litanei“. In der Tat: Das sind zwei Silben weniger, doch wer wollte glauben, es wären diese zwei Silben gewesen, deretwegen sich der Spiegel zur zweiten Formel entschloß – und nicht der Wunsch, den Leuten zu imponieren durch solche mit Gags überfrachtete Stil-Equilibristik? […]
„Da kommt es“, fürchtet ein SPD-Vorständler, „zum großen Show-down.“ Der Satz enthält zwei Spiegel-Marotten auf einmal: den Zitierten nach einem Zitatfetzen vorzustellen (wie seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr üblich) statt vor oder nach dem Zitat, was keinen Millimeter zusätzlichen Platz beanspruchen würde; und die – zugegeben – auf kurz gequälte Funktionsbezeichnung: Vorständler, ähnlich wie Deutschbankier, Koalitionär, Sozialausschüssler.
Funktionen, Relationen und Eigenschaften als eine Art Titel vor den Namen zu stellen wie „Regierungsrat“ oder „Bäckermeister“: das ist neben den Bildtexten die albernste Spiegel-Masche. Frühschöppner Höffner liest man da, Brandt-Schatten Gaus […]. Gibt es noch ein paar Deutsche, denen die Zähne singen bei diesem über Kreuz gelöteten Quark? Vielen Journalisten scheint er göttlich zu munden. „Wencke-Freund Pfleghar“ schreibt die Welt und „die Scheidung von Queen-Schwester Prinzessin Margaret“ das Hamburger Abendblatt.
Mit über Bord geht dabei der Genitiv. Schriebe man „die Schwester der Queen“ oder, um einen ganzen Anschlag länger, „Brandts Schatten“ und „Wenckes Freund“, so wäre mit bescheidenen Mitteln normales Deutsch entstanden – doch eben dies ist nicht gefragt. […]
Die Bildunterschriften mürben uns fast durchweg mit der Masche: „Überklebtes Wahlplakat: Hilfe aus dem Bahnhofsviertel“. Nur Narren meinen, der Spiegel meine, das Wahlplakat habe etwas gesagt. Die Eingeweihten frohlocken über den Doppelpunkt und erkennen ihn als heiliges Zeichen, als Hieroglyphe: Er teilt mit, daß zwischen dem, was vor ihm, und dem, was hinter ihm steht, jeder erdenkliche oder überhaupt kein Zusammenhang besteht. Schick, nicht? […]
Wem nichts anderes einfällt, der schreibt statt „Gisela Müller hatte einen Einfall“ wenigstens „Hatte einen Einfall: Gisela Müller“ (hinreißend!), ja, es gibt feinsinnige Redakteure, die sogar die deutsche Wortstellung beibehalten: „Gisela Müller: hatte einen Einfall“. Man bedenke: Durch das bloße Weglassen der Hieroglyphe wäre ein ganz normaler deutscher Satz entstanden! Hier sieht man die Marotte nackt. Sie trägt nichts, sie bringt nichts, sie ist die Masche an sich.
Weiterführender Link
- 2008-10-01 (Spiegel): Deutsch for sale
Richard Schneider