„Dolmetscher leisten geistige Schwerstarbeit“, behauptet die Welt

„Dolmetscher leisten geistige Schwerstarbeit“, behauptet die Welt. Wieder einmal singt eine Zeitung das Hohe Lied von Konferenzdolmetschern als den Titanen der Sprachenbranche, die Superhelden gleich Sprachbarrieren durchbrechen und so den Weltfrieden sichern.

Zu Wort kommen der Kölner Konferenzdolmetscher Wolfgang Schulz (48) und BDÜ-Präsident Johann Amkreutz. Der Artikel erläutert den Unterschied zwischen der Tätigkeit eines Dolmetschers (mündliche Übertragung) und eines Übersetzers (schriftliche Übertragung) sowie dem Simultan- und Konsekutivdolmetschen (gleichzeitge bzw. zeitversetzte Übertragung).

Wir erfahren, dass der Tagessatz eines Konferenzdolmetschers zwischen 700 und 1.000 Euro liegt, und ein Simultandolmetscher 80 bis 120 Einsätze pro Jahr schafft. Der Verbandspräsident beklagt pflichtgemäß, dass die Berufsbezeichnungen „Übersetzer“ und „Dolmetscher“ nicht geschützt sind und es keinen vorgeschriebenen Ausbildungsweg gibt.

Insgesamt ein gelungener Artikel, der diese Berufsgruppe in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückt. Denen, die sich in der Branche etwas auskennen, fällt aber auf, dass die Konferenzdolmetscher hier wieder einmal an ihrer eigenen Legende stricken und die Journalisten nicht in der Lage sind, dies zu durchschauen.

So heißt es über einen Dolmetscher bei einer Konferenz: „Dabei wird er Ruhe bewahren, selbst wenn sich die Rednerin in ihren eigenen Sätzen verhaspelt, wenn sie Silben und ganze Worte verschluckt.“ Wer hin und wieder Konferenzdolmetschern zuhören muss, weiß, dass es meist umgekehrt ist – es sind die Dolmetscher, die sich verhaspeln.

Und selbstverständlich folgt das Unvermeidliche: Es wird auf eine Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO verwiesen, nach der die Arbeitsbelastung von Simultandolmetschern allenfalls mit der von Jetpiloten und Astronauten vergleichbar ist. Eine Studie, die so alt ist, dass keiner mehr weiß, wann sie erstellt wurde. Im Internet ist sie nicht auffindbar. Gleichwohl wird ihr schmeichelhaftes Ergebnis unter Konferenzdolmetschern mündlich von Generation zu Generation überliefert.

Im Artikel werden zwei Falschangaben gemacht, die zu berichtigen sind:

  • „Schulz ist einer von etwa 6.000 Dolmetschern in Deutschland.“
    „6.000“ ist die Gesamtzahl aller in Berufsverbänden organisierten Sprachmittler in Deutschland (die große Zahl der Übersetzer und die geringe Zahl der Dolmetscher zusammengenommen). Die Gesamtzahl der Konferenzdolmetscher liegt hingegen einschließlich der nicht organisierten Kollegen irgendwo im mittleren dreistelligen Bereich. Dies ist schon an den Mitgliederzahlen der Berufsverbände für Konferenzdolmetscher abzulesen: Der VKD hat 250 Mitglieder, die aiic-Region Deutschland 270, darunter viele Doppelmitglieder.
  • „90 Prozent seiner Kollegen sind weiblich.“
    Diese Angabe ist übertrieben und gibt allenfalls die „gefühlte“ Dominanz der Frauen wieder. Der Frauenanteil im Mitgliederverzeichnis des VKD beträgt 81 Prozent und dürfte repräsentativ für Konferenzdolmetscher sein. (Unter Übersetzern ist der Frauenanteil geringer und liegt bei 70 Prozent.)

[Text: Richard Schneider. Quelle: Welt, 2007-12-01.]