Die Übersetzung des Jahres: Reinhard Kaisers Simplicissimus

Simplicissimus Reinhard KaiserDer Literaturübersetzer Reinhard Kaiser (59) hat den 340 Jahre alten Roman Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch in eine zeitgemäße Sprache übersetzt und damit heutigen Lesern zugänglich gemacht. Das Feuilleton feiert das soeben erschienene Werk und überschlägt sich in Lobeshymnen:

Reinhard Kaiser […] hat sich die Mühe gemacht, den verknorzten Simplicissimus Satz für Satz in ein so verständliches wie elegantes, dazu unbedingt zeitgenössisches Deutsch zu übertragen – eine Übersetzung aus dem Deutschen ins Deutsche, wie man sie auch mancher anderen Schrift des 17. und 18. Jahrhunderts wünschen möchte. Das Ergebnis ist die unverhoffte Wiederkehr eines ziemlich verschollenen Meisterwerks, ein kleines Wunder des Literaturbetriebs. (Der Spiegel, 03.08.2009)

Jetzt kann man Grimmelshausen wieder verstehen. […] von überzeugender Schönheit und Wucht. (Thomas Schmid, Die Welt)

Noch heute hätte der große Roman, von Reinhard Kaiser erzählerisch neu beatmet und in einer zweibändigen Prachtausgabe kredenzt, das Zeug dazu, ein Volksbuch der Deutschen des 21. Jahrhunderts zu werden. (Harro Zimmermann, Radio Bremen)

Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch, erstmals 1668/1669 in Nürnberg gedruckt, ist der eine, ganz große Roman des deutschen Barock, das große Volksbuch der deutschen Literatur. Es hatte zu Lebzeiten des Autors Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1625 – 1676) bahnbrechenden Erfolg, es gab mehrere Fortsetzungen und andere „simplicianische“ Schriften.

Wahrscheinlich wurde über dieses Buch alles gesagt und geschrieben, was dazu zu sagen und schreiben ist. Zumindest die Zuschreibungen, die der Simplicissimus im Laufe seiner dreihundertvierzigjährigen Wandlungsgeschichte erfahren hat, müssten ihn zu einem der populärsten Bücher aller Zeiten machen: Dieses Buch sei eine Persiflage und Parodie auf Wolfram von Eschenbachs Parzival, es sei ein Bindeglied zwischen Parzival und Goethes Wilhelm Meister – und damit eingereiht in den Olymp des deutschen Entwicklungsromans. Ein Bekehrungsroman sei er, ein Schelmen-, ein Picaro-Roman, ein Abenteuerroman, ein komischer dazu, ein Stück große Satire, ein Narrenspiegel, ein christliches Erbauungsbuch, ein autobiographischer Roman, ein Kriegsroman, ein Zeiten- und Sittenbild, in Teilen eine Utopie, erotische Groteske, ein phantastischer Reisebericht, eine Robinsonade und noch einiges mehr.

All diese Zuschreibungen treffen zu und doch war die Lektüre dieses Werks im 21. Jahrhundert nicht mit Lust, sondern wegen der Unlesbarkeit eher mit Frust, Langeweile und vor allem Mühsal verbunden.

Warum diese Mühsal? Warum nicht erkennende Lust? Das fragte sich Reinhard Kaiser, als er sich an die Übersetzung des Simplicissimus machte und die „brutale Operation“ des Übersetzens in Angriff nahm. Hier galt es, den verborgenen Glanz wieder zum Vorschein zu bringen: dieses Buch durch Übersetzen zu entziffern und beim erneuten Lesen zu Entdeckungen zu verhelfen, mit denen der Leser nicht gerechnet hat.

Kaiser sagt: „Der Simplicissimus ist keine altbackene, muffig und fast ungenießbar gewordene Scharteke, sondern ein Roman, der mit seinem Scharfsinn, seinem Witz und seiner gedankenspielerischen Kunstfertigkeit, mit seiner Großartigkeit und Eindringlichkeit zu den allerbesten gehört, die es in unserer Literatur gibt.“

Zur Besonderheit des Übersetzens aus dem Deutschen ins Deutsche erklärt er im Gespräch mit der Tageszeitung Die Welt:

Ich habe viele Bücher aus dem Englischen, einige auch aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Aber für mich war Übersetzen immer eine genuin literarische Betätigung, ein schöpferisches Umgehen mit der eigenen Sprache anlässlich eines Buches in einer fremden Sprache. Und den literarischen Reiz, den das Übersetzen für mich hat, habe ich schon während des Studiums zum ersten Mal im Mittelhochdeutsch-Seminar wahrgenommen. Insofern war mir die Idee, in diesem Falle aus dem Deutschen ins Deutsche zu übersetzen, von Anfang an sehr verlockend.

Was ich dabei nicht unbedingt erwartet habe: dass diese Übersetzungsarbeit in mancher Beziehung tatsächlich schwieriger war als das Übersetzen aus einer der Fremdsprachen, die mir vertraut sind. Das hing, glaube ich, damit zusammen, dass die Spielräume größer, die Wahlmöglichkeiten zahlreicher und damit die unzähligen Entscheidungen, die man als Übersetzer fällen muss, komplizierter waren, als dies im Umgang mit den anderen Sprachen der Fall ist. Aber auch das machte mir diese Arbeit nur umso interessanter. Das Neuerschaffen dieses ungeheuer vielschichtigen alten Textgebildes in einer gegenwärtigeren Sprache und zugleich das abenteuerliche Ausloten und Durchdringen der Sprache des Originals und der Welt, aus der sie stammt und von der sie erzählt.

Dreißigjähriger Krieg 

Vierzig Prozent der Deutschen starben im Dreißigjährigen Krieg

Der Simplicissimus ist vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges ein Roman über Krieg und Geld, über das Leben und Lieben, das Hauen und Stechen in einer verkehrten Welt, in der es drunter und drüber geht. Ein Zeitbild, das nichts auslässt und auf der literarischen Klaviatur alle Register zum Klingen bringt.

Der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648) war ein europäischer Krieg auf deutschem Boden. Gemessen an den prozentualen Bevölkerungsverlusten ist er das zerstörerischste Gemetzel, das Europa bis heute gesehen hat. Der Erste und Zweite Weltkrieg wirken daneben wie unbedeutende Scharmützel.

In den deutschen Ländern lebten Anfang des 17. Jahrhunderts rund 20 Millionen Menschen, von denen gut 40 Prozent während der Kriegswirren umkamen – vor allem durch militärische Handlungen, aber auch durch Hungersnöte und Seuchen. Einzelne Herzogtümer wie etwa Württemberg verloren zwei Drittel ihrer Bevölkerung. Fremde Mächte wie Schweden, die sich in Mitteleuropa austobten, verzeichneten ebenfalls einen spürbaren Bevölkerungsrückgang. Denn drei Viertel der nach Deutschland entsandten schwedischen Soldaten fielen.

Reinhard Kaiser erhält Grimmelshausen-Preis

Für seine Übertragung des Simplicissimus aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts in eine allgemein verständliche Sprache, die in hervorragender Weise Rythmus, Ton und Geist des ursprünglichen Textes bewahrt, wird Reinhard Kaiser im Herbst 2009 den Grimmelshausen-Sonderpreis 2009 erhalten. Der Johann-Jakob-Christoph-von-Grimmelshausen-Preis gehört seit 1993 zu den renommierten Literaturpreisen im deutschsprachigen Raum und wird von den Städten Renchen und Gelnhausen sowie den Bundesländern Baden-Württemberg und Hessen gestiftet.

Simplicissimus Grimmelshausen Erstausgabe 1669Der Autor: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen

Grimmelshausen wurde um 1622 als Sohn eines protestantischen Bäckers und Gastwirts geboren. Er stammte aus einem verarmten Thüringer Adelsgeschlecht. Durch die Plünderung Gelnhausens im Jahr 1634 wurde der Zwölfjährige schon früh in die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges verwickelt. Ab 1639 nahm Grimmelshausen zunächst als Soldat und dann als Schreiber in der Regimentskanzlei des kaiserlichen Oberstleutnants von Schauenburg (Oberkirch) in Offenburg aktiv am Krieg teil.

Nach Kriegsende heiratete er 1649 in Offenburg. Anschließend zog er nach Gaisbach im Renchtal, wo er ein Grundstück erwerben konnte und als Pferde- und Weinhändler arbeitete. In dieser Zeit trat er zum katholischen Glauben über. Von 1662 bis 1665 war er als Burgvogt auf der benachbarten Ullenburg tätig. Von hier aus knüpfte Grimmelshausen seine Kontakte zur Sprachvereinigung Aufrichtige Gesellschaft von der Tannen in Straßburg.

Danach übernahm er bis 1667 in Gaisbach die Gastwirtschaft Zum Silbernen Stern. In dieser Zeit begann seine Tätigkeit als Schriftsteller. 1667 wurde er Schultheiß in Renchen im Dienste des Straßburger Bischofs Leopold Wilhelm von Österreich.

In der Regel benutzte Grimmelshausen Pseudonyme, unter denen seine Werke veröffentlicht wurden. So nannte er sich auf der nebenstehend abgebildeten Titelseite der Erstausgabe des Simplicissimus „German Schleifheim“.

Der Übersetzer: Reinhard Kaiser

Reinhard Kaiser, geboren 1950 in Viersen am Niederrhein, ist einer der brillantesten und angesehensten Übersetzer aus dem Englischen. Er studierte Germanistik, Romanistik, Sozialwissenschaften und Philosophie in Berlin, Paris, Köln und Frankfurt (a.M.), arbeitete als Übersetzer und Lektor (Belletristik und Sachbuch) erst für den Suhrkamp-Verlag und ab 1980 als freier Übersetzer und Lektor für viele große Publikumsverlage. Seit 1976 übersetzte er über 70 Bücher aus dem Englischen ins Deutsche von Isaiah Berlin bis zu Irene Dische, Sylvia Plath und Susan Sontag, von D.H. Lawrence, Sam Shepard, Neil Postmann bis zu Richard Sennet und schrieb bisher acht Bücher als originaler Autor.

Das Buch

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch. Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts von Reinhard Kaiser. Frankfurt am Main: Eichborn, 2009. 762 Seiten, 49,95 Euro, ISBN-13: 978-3821847696.

[Text: Material des Eichborn Verlags, überarbeitet und angereichert von Richard Schneider. Quelle: Eichborn Verlag; Wikipedia (Grimmelshausen-Biografie); Die Welt, 2009-08-27. Bild: Eichborn, Wikipedia.]

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