Neuübersetzung der Isländersagas ins Deutsche

Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse (Ehrengast ist dieses Jahr Island) ist in diesen Tagen eine vierbändige, mehrere tausend Seiten umfassende Neuübersetzung der mittelalterlichen Isländersagas („Íslendingasögur“) erschienen. Die Isländersagas gelten wie die Epen Homers oder das Werk Shakespeares als Schatz der Weltliteratur. Sie waren für Island über Jahrhunderte hinweg wichtig für die Identitätsfindung. Sogar der isländische Präsident hat in einem Interview einmal gesagt: „Sie haben uns zu einem Volk gemacht.“ Noch heute identifizieren sich viele Isländer mit den Heldengeschichten, in denen es keine Klassenunterschiede gibt. Schließlich könnte es sich bei den Figuren um entfernte Verwandte handeln. Dies ist bei einem Land mit etwa 320.000 Einwohnern gar nicht mal so abwegig. Arthúr Björgvin Bollason, heute in Frankfurt lebender Buchautor und Übersetzer, war lange Zeit Leiter des Saga-Zentrums im Süden Islands. „Die Sagas haben dazu beigetragen, dass die Menschen mehr Freude am Leben hatten. Sie wurden tradiert von einer Generation zur anderen und spielten im Alltag eine Rolle, weil das Erzählen als eine Art Glück, eine Art Unterhaltung immer sehr groß geschrieben wurde. Es gab nicht so viel Unterhaltung damals.“

In der europäischen Literatur sind die Sagas einzig: Nirgendwo anders entstand eine solche spannende, in der Volkssprache abgefasste Prosaliteratur. Die Sagas spielen in der Zeit zwischen den Jahren 930 und 1050. Niedergeschrieben wurden sie von unbekannten Verfassern im 13. und 14. Jahrhundert auf präparierten Kalbshäuten. Die Sagas der neuen S. Fischer Edition erzählen vom Leben der ersten Siedler auf Island, von der Landnahme im späten neunten und frühen zehnten Jahrhundert, ihren Hofgründungen, Familienfehden und Rechtsstreitigkeiten. Sie handeln von ihren Fahrten, die nach Schottland, England und bis nach Rom führten, und nicht zuletzt zu dem legendär rauen Ruf der Isländer beitrugen, denn es ging dabei nicht immer friedlich zu. Die Helden sind nämlich oftmals listig und eigensinnig zugleich. Die bekannten Sagas wie die von den Menschen im Laxárdal oder von dem großen Helden Grettir fehlen ebenso wenig wie die „Die Saga von Brennu-Njáll“ sowie die Sagas von Vinland und Grönland, die von der ersten europäischen Entdeckung Amerikas berichten.

Die für ein allgemeines Publikum gut verständliche und lesbare sowie umfangreiche Neuübersetzung der 14 an dem Projekt beteiligten Übersetzer bildet einen Höhepunkt im 125-jährigen Jubiläumsjahr des S. Fischer Verlags. Ferner schließt sie eine große Lücke. Islands wichtigster Beitrag zur Weltliteratur wird durch eines der ehrgeizigsten Neuübersetzungsprojekte der letzten Jahrzehnte dem deutschen Lesepublikum wieder zugänglich gemacht. Die Sagas wurden spät übersetzt, man hat Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen, sie in die englische Sprache zu übertragen. Vor etwa 15 Jahren gab es bei Penguin Classics die erste größere Ausgabe. „Der Missbrauch durch die Nazis hat den Zugang zu den Sagas lange verhindert“, erklärt der Autor Halldór Guðmundsson, der den Auftritt Islands auf der Buchmesse organisiert und den Anstoß zur Neuübersetzung gab. 1936 waren die Sagas in Nazi-Deutschland – dem Rassenwahn vom nordischen Menschen verpflichtet – unter dem Titel „Herrenmenschen im alten Island“ erschienen. Aus dem „Fjord“ wurde in der Übersetzung die „Förde“. Bei der Eindeutschung wurde sogar vom „Lachsflusstal“ gesprochen, wie der deutsch-isländische Schriftsteller Kristof Magnusson weiß. „Man hat eher das Gefühl, die Sagas spielten im Schwarzwald“, sagt er.

Die Neuübersetzungen liegen in vier Bänden vor. Zudem gibt es einen Begleitband der Herausgeber, der in die Welt der Sagas einführt, die Gattung und ihre Geschichte darlegt und in einem umfangreichen Glossar erläutert. Die bei allen Unterschieden durchgehend flüssig übersetzten Texte lassen bei Orts- und Personennamen das Original durchscheinen, indem genuin isländische Buchstaben nicht durch deutsche Letternkombinationen ersetzt werden, und man kann sich unschwer vorstellen, welche Mühe es gekostet haben mag, sich auf editorische Richtlinien zu einigen und diese auch durchzusetzen. Finanzielle Unterstützung kommt von Island. Ferner wurde die Neuübersetzung von der Kunststiftung NRW gefördert.

Die Herausgeber sind Klaus Böldl, Professor für skandinavische Kultur- und Literaturgeschichte des Mittelalters an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Andreas Vollmer, ehemaliger Lektor für Isländisch an der Humboldt-Universität zu Berlin, und Julia Zernack, Professorin für Skandinavistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Es übersetzen Klaus Böldl, Wolfgang Butt, Thomas Esser, Tina Flecken, Johannes Heimeroth, Ursula Gieger, Mathias Kruse, Kristof Magnusson, Kurt Schier, Sabine Schmalzer, Andreas Vollmer, Betty Wahl, Laura Wamhoff, Karl-Ludwig Wetzig.

Es zeichnet sich ab, dass der Auftritt des Ehrengastes Island auf der kommenden Frankfurter Buchmesse sehr eindrucksvoll sein wird. Unter dem Motto „Sagenhaftes Island“ wird sich das kleine Land mit der großen Literatur vom 12. bis 16. Oktober 2011 präsentieren. Herzstück der Präsentation sind natürlich die Isländersagas.

Zu den Isländersagas
Die Isländersagas in 4 Bänden mit einem Begleitband
Hrsg. von Klaus Böldl, Andreas Vollmer und Julia Zernack
S. Fischer Verlag
September 2011
Hardcover
98,00 Euro
ISBN: 978-3-10-007629-8

Mehr zu diesem Thema auf uepo.de
Isländisch – Das Latein des Nordens

[Text: Jessica Antosik. Quelle: fischerverlage.de; faz.net, 12.09.2011; fnp.de, 13.09.2011; dw-world.de, 09./13.09.2011. Bild: fischerverlage.de.]