Papier ist geduldig und so mancher Autor wünscht sich nach Jahren oder Jahrzehnten, bestimmte Dinge nicht geschrieben zu haben. So womöglich auch Prof. Dr. Günther Haensch (88), emeritierter Professor für angewandte Sprachwissenschaft (Romanistik) der Universität Augsburg.
Im zarten Alter von 33 Jahren schrieb Dr. Haensch 1956 in der von ihm über Jahrzehnte herausgegebenen Fachzeitschrift Lebende Sprachen unter der Überschrift „Die gegenwärtige Lage des Dolmetscherwesens und die Berufsaussichten für den Konferenzdolmetscher“:
„Junge Mädchen, die um die Jahrhundertwende Gouvernanten geworden wären“
Weit gefährlicher als die Tendenz zur Marktbeschränkung ist heute die Gefahr, daß der Beruf des Konferenzdolmetschers überlaufen wird. Zuviele Zeitungen und Zeitschriften haben – mit oder ohne Bildbeilagen – über den so lukrativen Beruf des Konferenzdolmetschers, der auch irgendwie par excellence ein Beruf unseres Zeitalters ist, berichtet. Dazu kommt, daß von verantwortungslosen Schulen der Eindruck erweckt wird, es sei ein ungeheurer Bedarf an Konferenzdolmetschern vorhanden. […]
Die Marktlage rechtfertigt einen solchen Andrang keineswegs, denn man kann sagen, daß heute der Markt mehr oder weniger gesättigt ist. Man muß vor allem dagegen ankämpfen, daß alle jungen Mädchen, die um die Jahrhundertwende Gouvernanten geworden wären, heute Konferenzdolmetscherinnen werden wollen. Die negativen Auswirkungen eines solchen ungesunden Andranges von Nachwuchskräften zeigen sich bereits darin, daß junge Mädchen mit Dolmetscherdiplom in Zeitungsanzeigen eine Anstellung als Übersetzerin, Korrespondentin oder Erzieherin suchen. Kommentar überflüssig!
Die wenigen wirklich qualifizierten Nachwuchskräfte, die geborene Konferenzdolmetscher sind und sich mit Leib und Seele diesem manchmal etwas seltsam anmutenden Beruf verschreiben wollen, werden immer ihren Weg machen; für eine größere Anzahl von zusätzlichen Konferenzdolmetschern ist auf dem Arbeitsmarkt einfach kein Platz vorhanden, dessen Gesamtkapazität W. Keiser in seinem oben erwähnten Artikel wohl richtig – für die ganze Welt – auf 400-450 abschätzt. Die sich daraus ergebende Schlußfolgerung ist, daß nur überdurchschnittlich begabte junge Leute noch gewisse Aussichten in diesem Beruf haben.
Im übrigen ist es die Aufgabe aller Verantwortlichen, vor allem der Sprachenschulen und Dolmetscherinstitute, ihre Schüler von Anfang an nach anderen Sprachberufen hin zu orientieren, wie dies verantwortungsbewußte Schulen bereits heute tun. Alles andere wäre bei der herrschenden Marktlage so etwas wie Hochstapelei.
Ein weltweiter Bedarf an Konferenzdolmetschern von 400 bis 450? Im Nachhinein ist man immer klüger. Die Zahl der Konferenzdolmetscher hat sich in den vergangenen 50 Jahren vervielfacht. Heute hat allein die AIIC, der elitäre Weltverband der Konferenzdolmetscher, 2.970 Mitglieder.
Die Einschätzung von Haensch und Keiser aus den 1950er Jahren erinnert an die Worte von IBM-Chef Thomas J. Watson, der 1943 gesagt haben soll: „Ich glaube, es gibt einen weltweiten Bedarf an vielleicht fünf Computern.“ Oder an die Fehlprognose des Automobil-Erfinders Gottlieb Daimler, der überzeugt war: „Es werden höchstens 5.000 Fahrzeuge gebaut werden. Denn es gibt nicht mehr Chauffeure, um sie zu steuern.“
Richard Schneider