Studieren in der fremdartigen Welt der Hörenden

Die Barrierefreiheit von Gehörlosen ist in vielen Bereichen stark eingeschränkt. Das Studium an einer Universität beispielsweise ist mit vielen Herausforderungen verbunden. Dennoch hat Günter Roiss, der seit seinem dritten Lebensjahr infolge einer falschen Medikation taub ist, nach 20 Semestern sein Psychologiestudium an der Universität Wien erfolgreich abgeschlossen. Nach Rechtswissenschaften ist Psychologie das zweitbeliebteste Studienfach von Studierenden mit Beeinträchtigung an der Uni Wien. Der 38-Jährige ist mütterlicherseits der Einzige in der Verwandtschaft, der studiert hat und gehörlos ist.

An seinem ersten Tag auf der Universität wurde er von einem Dolmetscher begleitet. Trotz allem war es ein „völlig neues System“. In der Schule hat das Lippenlesen teilweise funktioniert, im Hörsaal ohne Blickkontakt zum Professor ist dies allerdings nicht möglich. Günter Roiss war somit auf Skripte und Mitschriften angewiesen. Aber er konnte aus einer Vorlesung nicht die gleichen Informationen gewinnen wie seine Studienkollegen ohne Beeinträchtigung.

Vom Fond Soziales Wien erhielt er 2300 Euro im Jahr. Dieses Geld reichte ihm dafür aus, um für zwei Vorlesungen im Semester einen Dolmetscher zu engagieren. Danach hatte er keinen Dolmetscher mehr zur Verfügung. Als dies einmal der Fall war, versuchte seine Mitstudentin Tuulia Ortner ihm zu erklären, worum es gerade geht: „Der Professor hat mich plötzlich angesehen und gesagt, wir sollen endlich aufhören, da herumzuhampeln und Faxen zu machen. Das muss ganz schrecklich für Günter gewesen sein, denn ich war wie erstarrt, und alle im Hörsaal sahen uns an.“ Der Professor habe sich später jedoch entschuldigt.

Auf die Frage, ob Roiss während seines Studiums bewusst schlecht behandelt wurde, sagt er, dass das Problem eher in der Verunsicherung der im Massenstudium ohnehin schon überbelasteten Professoren läge. Insbesondere Prüfungsmodalitäten wären schwierig zu regeln – Für Gehörlose ist Deutsch die erste Fremdsprache. Mehr Aufklärungsarbeit und geregelte Lösungsansätze wären nötig.

Für Günter Roiss waren seine Kommilitonen eine große Hilfe. Nachdem er seine Sitznachbarn mithilfe eines Zettels „angesprochen“ hatte, haben sich oft Freundschaften entwickelt. Manche besuchten sogar einen Gebärdensprachkurs, sodass sie gegenseitig voneinander profitierten. In Bezug auf seine Beeinträchtigung äußert sich Roiss wie folgt: „Ich gehe gemütlich durchs Leben. Zum Beispiel werden Hörende abgelenkt durch Lärm beim Arbeiten, für mich gibt es da gar keine Belastung.“

Insgesamt gesehen hat Roiss inklusive dreijähriger Pause 13 Jahre gebraucht, bis er den Master in der Tasche hatte. Dies ist doppelt so lang als die vorgesehene Mindeststudienzeit. „Ich glaube, dein Studienerfolg ist größer als meiner“, versichert ihm seine Studienkollegin Ortner trotzdem. Seit einigen Monaten ist Roiss nun als selbstständiger Psychologe, Übersetzer und Lehrbeauftragter für Gebärdensprache und Gehörlosenkultur im Institut für Bildungswissenschaften tätig. Die beiden Kommilitonen ziehen das folgende Fazit: „Alles in allem ist es ein Wunder, dass es doch geklappt hat, und das sollte es eigentlich nicht sein.“

[Text: Jessica Antosik. Quelle: derstandard.at, 09.10.2011.]