Die Monatszeitschrift Reader’s Digest berichtet im Oktoberheft 2011 unter der Überschrift „Das Sprach-Genie“ ausführlich über Ioannis Ikonomou. Der im Sprachendienst der EU in Brüssel angestellte Übersetzer und Dolmetscher ist dafür bekannt, 32 Sprachen fließend zu beherrschen. Selbst unter den polyglotten Sprachexperten im größten Sprachendienst der Welt ist er damit eine Ausnahmeerscheinung.
Der Reporter besucht ihn zu Hause und schreibt: „In der Ecke läuft im Fernsehen leise ein chinesisches Programm. Am Abend schaltet er gern seine russische Lieblings-Talkshow ein. Es folgen die Nachrichten, die er gleichzeitig auf Spanisch und Portugiesisch verfolgt. Danach entspannt er sich bei einer albanischen Seifenoper.“
Typisch für Ikonomou ist das ganzheitliche Eintauchen in die Kulturen, deren Sprache er lernt: „Mit 18 lernte er auf einer Reise nach London Hare-Krishna-Jünger kennen und kam mit Sanskrit-Büchern zum Selbststudium und einem Stapel CDs mit indischer Musik beladen nach Hause. Er wurde strikter Vegetarier und rührte 18 Jahre lang kein Fleisch an.“ Seine Mutter regte sich darüber auf, dass er eine Zeit lang mit den Fingern statt mit Messer und Gabel aß.
Wie Ikonomou ohne Weiteres zugibt, „habe ich auch etwas von einem Fachidioten“. „Solange ich denken kann, wollte ich nie so sein wie die anderen. […] Mir war der Gedanke, normal zu sein, ausgesprochen zuwider. Und ich erkannte, dass mir die Sprachen den Weg zu neuen Welten weisen können.“
Nach einem dreijährigen Sprachenstudium an der Universität Thessaloniki ging er zehn Jahre lang auf Reisen. Dank seiner vermögenden Eltern habe er seine Studien in den USA fortsetzen können.
Und wie kam er zur EU? Die Leiterin des Sprachendienstes beim Europäischen Parlament habe zufällig von ihm gehört und ihn gefragt, ob er an einer Stelle in ihrer Abteilung interessiert sei. Er wurde zu einem Simultandolmetscherkurs nach Teneriffa geschickt. Dies sei das Anstrengenste gewesen, was er je in seinem Leben gemacht habe: „Immer wieder wachte ich mitten in der Nacht aus Albträumen auf, in denen ich mit dem Dolmetschen nicht hinterherkam oder in Panik geriet, weil ich etwas nicht mitgekriegt hatte. Aber zum Glück bestand ich am Ende die Prüfung und fing in Brüssel an.“
Über die Arbeit als Konferenzdolmetscher sagt er: „Es war ein merkwürdiges Leben. Ich war eingesperrt in meiner Kabine.“ Ihm fehlte der persönliche Kontakt zu denjenigen, für die er dolmetschte, darunter viele Staatsmänner. Er sei einmal zufällig dem britischen Premierminister Tony Blair im Fahrstuhl begegnet, für den er auch gedolmetscht hatte. Blair habe davon aber natürlich keine Ahnung gehabt.
2002 wechselte er vom mündlichen ins schriftliche Fach und übersetzt seitdem vor allem Rechtstexte.
Abschließend wird Ikonomou mit folgenden Worten zitiert: „Vielleicht bin ich nicht mehr der Idealist, der ich früher einmal war. Aber trotzdem glaube ich immer noch, dass viele Probleme auf dieser Welt einfach dadurch entstehen, dass sich die Menschen untereinander nicht verständigen können.“
[Text: Richard Schneider. Quelle: Reader’s Digest, Oktober 2011.]