„Lassma Kino gehn!“ Kiezdeutsch, ein neuer Dialekt

Unvollständige Sätze, die sich aus arabischen und türkischen Fremdwörtern zusammensetzen, grammatische Vereinfachungen, abweichende Wortstellungen, „so“ als Fokusmarker sowie fehlende Flexionsendungen, Artikel und Präpositionen bei Ortsangaben sind für die Jugendsprache der Großstädte, vor allem für die Jugendsprache in multiethnischen Wohngebieten, charakteristisch. Einige Beispiele zur Verdeutlichung: „Ich frag mein Schwester“, „Ich bin Schule“, „So auch auf der Straße kommen die Leute“ oder „Ich werde zweiter Mai fünfzehn“. Das im Titel bereits erwähnte „lassma“ deutet auf ein neues grammatische Subsystem an: Es leitet eine Anforderung ein, die den Sprecher selbst in die Handlung mit einbezieht.

Alles, was nicht Standard ist, wird als falsch wahrgenommen, und nicht als alternative Möglichkeit akzeptiert. Aufgrund der genannten Elemente hat die Jugendsprache oftmals einen schlechten Ruf. Gewöhnlich gilt sie als gebrochenes, schlechtes Deutsch.  Wer „Das ist meiner Mutter ihr Hut“ sage, werde oft abgestempelt, so Heike Wiese, Professorin für Deutsche Sprache der Gegenwart und Sprecherin des Zentrums „Sprache, Variation und Migration“ an der Universität Potsdam. An dieser Stelle kann man sich in Anlehnung an die Sarazzin-Debatte die Frage stellen, ob sich Deutschland in Vierteln wie Kreuzberg sprachlich abschafft. Weise stimmt dem nicht zu. Ihrer Ansicht nach gibt es nach „das Deutsche“. „Das ist nur ein Oberbegriff für ganz viele Stile und Dialekte. Eine Variante ist Standarddeutsch.“ Doch sie ist sich dessen bewusst, dass Dialekte weltweit keinen guten Ruf haben. Jugendsprache wird mit Sprachverfall und -verarmung in Verbindung gebracht. Wer die Jugendsprache allerdings bislang für daneben hielt, wird nun eines Besseren belehrt. Die Linguistin erforscht den Jugendslang und vertritt einen anderen Standpunkt: Für sie handelt es sich beim Kiezdeutsch um einen kreativen Dialekt sprachbegabter oder mehrsprachig aufgewachsener Menschen, samt Grammatik. Nach Wiese ist Kiezdeutsch weder ein willkürliches Produkt von Sprachidioten, noch dient es allein zur Verständigung aggressiver Migrantengangs. „Kiezdeutsch ist kein Sprachmangel, sondern die Entwicklung einer neuen Sprache: die Entstehung eines neuen Dialekts.“ Die Jugendsprache sei weder chaotisch noch regellos. Entgegen zahlreicher Befürchtungen anderer Linguisten sei Kiezdeutsch eine spannende Bereicherung des Deutschen und keineswegs eine Bedrohung für die deutsche Sprache oder gar der Untergang der deutschen Hochsprache. Kiezdeutsch sei eine in sich stimmige sprachliche Varietät.

Anfang Februar sind Heike Weises Ergebnisse in dem Buch Kiezdeutsch: Ein neuer Dialekt entsteht erschienen. Darin untersucht sie den Dialekt, den Jugendliche im Berliner Migranten-Stadtteil Kreuzberg sprechen und legt Vorurteile ab. In diesem Zusammenhang ging sie soziologischen sowie soziolinguistischen Aspekten auf den Grund. „Es scheint bei vielen Menschen für das eigene Weltbild wichtig zu sein, dass das Deutsch in Migrantenvierteln nur gebrochenes Deutsch sein kann“, erklärt Wiese. Dies könne mit zahlreichen vorherrschenden Klischees zu tun haben. Insbesondere gehe es jedoch um die Vorurteile gegenüber Jugendlichen mit Migrationshintergrund, denen unterstellt werde, sie würden sich nicht integrieren (wollen) und über mangelnde Sprachkenntnisse verfügen. Das Wort „Migrationshintergrund“ werde nicht mit Innovation assoziiert.

Der Widerstand der Jugendsprache-Gegner hat Weise dazu animiert, dem Phänomen des Kiezdeutschen wissenschaftlich nachzugehen. Kreuzberger Schüler bekamen Aufnahmegeräte und zeichneten ihre Alltagsgespräche auf. Die Sprachwissenschaftlerin zielt darauf ab, Negativ-Klischees zu widerlegen. Ihrer Studie zufolge wird Kiezdeutsch von vielen Jugendlichen in Kreuzberg, aber auch in anderen Regionen Deutschlands gesprochen. Das Phänomen sei auch in Hamburg, Mannheim oder auch im Ruhrgebiet zu beobachten. Ähnliche Entwicklungen gebe es ebenfalls in Großbritannien, Schweden, Dänemark, in den Niederlanden und den USA. Zudem verändere sich das Kiezdeutsch sehr schnell. „In anderen Ländern gibt’s kein Kiezdeutsch, aber man könnte es dann kiezdänisch, kiezholländisch, kiezschwedisch nennen, englisch sowieso. Überall in Europa, wo sich in urbanen Gebieten viele Jugendliche treffen, viele unterschiedliche Sprachen zusammen kommen, entwickeln sich sehr dynamische neue Jugendsprachen.“ Vor sechs Jahren noch sagten Kreuzberger Jugendliche, sie „reden krass“. Nun ist „wannebe“ eine (noch) aktuelle Wortneuschöpfung, die ihre Wurzeln in der englischen Facebook-Sprache hat,  allerdings deutsch ausgesprochen wird. „Übersetzt“ bedeutet das Wort „Ich würde ja gern, aber ich habe leider keine Zeit“.

Die soziale oder ethnische Herkunft spiele beim Kiezdeutsch keine Rolle. Fast alle Schüler beherrschen auch korrektes Standarddeutsch sowie Fremdsprachen. Kiezdeutsch habe eine andere, zentrale Funktion, betont Wiese. „Es sagt aus, dass man zu einer Gruppe gehört.“ Spreche ein Jugendlicher Kiezdeutsch mit Erwachsenen, wolle er meist provozieren. Und die Rechnung geht zumeist auf.

Das Team um Heike Wiese hat zudem das „Infoportal Kiezdeutsch“ ins Leben gerufen, das einer breiten Öffentlichkeit die sprachwissenschaftliche Ergebnisse zu Kiezdeutsch zugänglich machen soll, sprachliche Beispiele in Form von Audioaufnahmen bereitstellt und als Handreichung für Schulprojekte zur grammatischen Analyse von Kiezdeutsch dient.

Zum Buch
Heike Wiese: Kiezdeutsch: Ein neuer Dialekt entsteht
Verlag: Beck
Auflage: 1. (8. Februar 2012)
Seiten: 280
ISBN-10: 3406630340
ISBN-13: 978-3406630347
Preis: 12,95 Euro

[Text: Jessica Antosik. Quelle: focus.de, 12.02.2012; dradio.de, 16.02.2012; bild.de, 16.02.2012; goethe.de.]