Unverständnis und Empörung herrschen in Brüssel, nachdem der Deutsche Bundestag am 14.06.2012 einen Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP angenommen hatte. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, in Brüssel darauf hinzuwirken, dass mehr EU-Dokumente ins Deutsche übersetzt werden.
Die deutsche Presse hatte den Vorgang verzerrt dargestellt und behauptet, die Parlamentarier beschwerten sich über die Qualität der EU-Übersetzungen. Ausgangspunkt war eine Pressemitteilung der Saarbrücker Zeitung mit der Überschrift „Bundestag schickt wegen schlechter Übersetzungen immer öfter EU-Vorlagen retour“. Andere Blätter verdrehten die Tatsachen weiter, sodass dann Schlagzeilen wie diese zu lesen waren: „Schlechte Übersetzung – Unverständliche EU-Papiere belasten Bundestag“; „Bundestag schickt mehr als 100 EU-Dokumente zurück – wegen schlampiger Übersetzung“; „Union und FDP verlangen bessere Übersetzungen von Brüssel“. Dabei ging es im Bundestag nur um fehlende und nicht um schlechte Übersetzungen.
In den Online-Foren der Übersetzungsbranche wurden die Meldungen eifrig diskutiert. Auch die Brüsseler ZDF-Korrespondentin Ina D’Hondt nahm sich des Themas an und produzierte einen Fernsehbeitrag mit dem Titel „Der Bundestag versteht die EU nicht“, der am 25.06.2012 ausgestrahlt wurde. Darin lässt sie folgende Personen zu Wort kommen:
Der Bundestagsabgeordnete Stefan Ruppert (FDP), Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union, wiederholt vor der ZDF-Kamera die Argumentation der Antragsteller. „50 Mal“ habe man Beratungen nicht durchführen können, weil Dokumente nicht oder nicht vollständig in deutscher Übersetzung vorgelegen hätten.
Tatsache ist, dass oft nur die eigentlichen Gesetzestexte übersetzt werden. Denn nur dazu ist die EU verpflichtet. Hintergrundinformationen wie Anhänge, Machbarkeitsstudien und technische Begleitdokumente zu Rechtsvorschriften bleiben aus Kosten- und Kapazitätsgründen häufig unübersetzt. Sie liegen den Abgeordneten dann meist nur auf Englisch und/oder Französisch vor. Die EU ist nicht verpflichtet, diese ebenfalls zu übersetzen.
Dennis Abbott, Sprecher der EU-Kommissarin für Mehrsprachigkeit, Androulla Vassiliou, erklärt, dass die EU-Übersetzungsdienste im Fall von Deutschland immer schon mehr übersetzt hätten als eigentlich vorgeschrieben sei. Dazu gehörten auch Hintergrundinformationen und Beratungspapiere.
Die Übersetzer der EU-Kommission werden im Fernsehbeitrag nicht befragt. Als Beamte dürfen sie sich gegenüber den Medien grundsätzlich nicht äußern. Daher werden sie nur anonym (ohne dass der Kopf zu sehen ist) beim Blättern in Wörterbüchern gezeigt.
Regelrecht empört zeigt sich Dagmar Roth-Behrendt (SPD), Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Der Antrag, der von den Regierungsfraktionen im Bundestag eingebracht wurde, sei „eine wirkliche Frechheit“. Denn dieselben Fraktionen würden der EU ständig vorwerfen zu viel Geld auszugeben. Und dieselbe CDU/FDP-Regierung fordere, dass die EU mehrere Milliarden Euro an Verwaltungsausgaben einspare und die Mitarbeiterzahl um 5 Prozent reduziere.
Der Bundestag hatte in seinem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, bei den Verhandlungen zur künftigen Finanzplanung darauf hinzuwirken, dass mehr EU-Texte ins Deutsche übersetzt werden.
Doch wenn bei allgemeinem Sparzwang mehr Geld für Übersetzungen ins Deutsche ausgegeben werden soll, muss dieses an anderer Stelle eingespart werden. „Ob da die anderen Mitgliedsländer mitmachen, ist fraglich“, so die ZDF-Korrespondentin Ina D’Hondt abschließend in ihrem Beitrag.
EU-Übersetzer verfolgen stumm die Diskussion
Der Antrag des Bundestags an die Bundesregierung sowie die sich anschließenden Falschmeldungen in der Presse und die Richtigstellung auf UEPO.de wurden in den EU-Sprachendiensten aufmerksam verfolgt, wie UEPO.de erfahren hat – geht es doch um die Berufsehre der EU-Übersetzer.
Aus gut informierten Kreisen war zu vernehmen, dass die EU-Sprachendienste durchaus hin und wieder Korrekturwünsche von deutschen oder österreichischen Ministerien erhalten. Dabei gehe es aber praktisch immer um Terminologiefragen und so gut wie nie um die Verständlichkeit der Übersetzungen. Von Beschwerden über die Qualität der Übersetzungen im Allgemeinen sei in den Übersetzungsdiensten nichts bekannt.
Die von den nationalen Regierungen durchgesetzten Sparmaßnahmen beträfen auch den Übersetzungsdienst der EU-Kommission, wie es in Brüssel heißt. Bis auf Weiteres würden die Stellen von Übersetzern, die in den Ruhestand gehen, nicht mehr neu besetzt. So soll die Zahl der angestellten und verbeamteten Übersetzer in den nächsten Jahren um 5 bis 10 Prozent reduziert werden.
Mit dem Zweiten sieht man besser
Erfreulich ist, dass die Brüsseler ZDF-Korrespondentin Ina D’Hondt die Falschmeldungen ihrer Pressekollegen nicht für bare Münze genommen, sondern eigene Nachforschungen angestellt hat – beim Bundestag, der EU-Kommission, dem Europäischen Parlament und auch in Übersetzerkreisen.
D’Hondt war bei ihren Recherchen auf einen UEPO.de-Artikel von Richard Schneider gestoßen und telefonierte mit dem Betreiber des Nachrichtenportals für die Übersetzungsbranche. Dieser schilderte ihr die Sicht der Übersetzer und stellte ihr Diskussionsbeiträge zum Thema aus Online-Foren für Übersetzer sowie einen Artikel von Diplom-Sprachmittler Kai Zimmermann zur Verfügung, der im MDÜ 2/2012 die Arbeit der Freiberufler für die EU-Übersetzungsdienste beschrieben hat.
Mit dem Zweiten hat man in diesem Fall also tatsächlich besser gesehen und wurde über den Sachverhalt klar und zutreffend informiert. Dem gegenüber waren die Artikel der Printmedien überwiegend unzutreffend und haben auf allen Seiten für Verwirrung gesorgt.
ZDF-Sendung „heute in europa“
Die Sendung „heute in europa“ wird montags bis freitags von 16:00 bis 16:15 Uhr im ZDF ausgestrahlt. Der hier besprochene Beitrag von Ina D’Hondt mit dem Titel „Der Bundestag versteht die EU nicht“ (1:55 Minuten) lief am 25.06.2012 im ZDF und kann in der ZDF-Mediathek unter folgender Adresse aufgerufen werden:
www.zdf.de/ZDFmediathek#/beitrag/video/1670998/Der-Bundestag-versteht-die-EU-nicht
Mehr zum Thema auf UEPO.de
[Text: Richard Schneider. Quelle: heute in europa, 2012-06-25. Bild: ZDF, EU, Büro Roth-Behrendt.]