„Übersetzen ist in den letzten 20 Jahren zu einem höchst schillernden Leitbegriff der Kulturwissenschaften geworden“, unterstreicht Professor Albrecht Buschmann. Er leitet den Lehrstuhl für spanische und französische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Rostock und vertritt folgende These: „Das 21. Jahrhundert wird ein Jahrhundert der Migration sein“, denn immer mehr Menschen migrieren, getrieben durch Verfolgung oder angelockt durch Arbeit. „Folglich leben immer mehr Menschen in Zusammenhängen, in denen sie nicht ihre Muttersprache sprechen“, sagt Buschmann.
Mit der Verbreitung von Sprachen über den Globus wurden schon ganze Wissensordnungen transportiert. Wenn die Entwicklung so weitergeht, sprechen wahrscheinlich in 50 Jahren 50 Prozent der US-Amerikaner Spanisch. Die Schlussfolgerung des Wissenschaftlers: „Übersetzen hat sich unter dem Stichwort ,Übersetzung zwischen Kulturen‘ zu einer neuen Forschungsperspektive entwickelt. Damit steht der Übersetzungsbegriff selbst auf dem Prüfstand.“
In der Profillinie „Wissen-Kultur-Transformation“ der Uni Rostock stellen sich zwei entscheidende Fragen für die Arbeitsgruppe „Übersetzen“. Welche Voraussetzungen sind gegeben, um in diesem international wachsenden Forschungsfeld eine Rolle spielen zu können? Und welche innovativen Forschungsperspektiven lassen sich so entwickeln?
An der Rostocker Universität, deren Fächer eine mehr als 2.000 Jahre alte Übersetzungsgeschichte in den Blick nehmen, forschen Professoren und Stipendiaten der klassischen Philologie, der Mittelaltergermanistik, der neusprachlichen Philologien sowie der Theologie.
Die Erkenntnis von Prof. Buschmann: „Das Wissen der Übersetzer schlummert in ihren Notizen, Nachworten und Anmerkungen, kaum jemand in der Wissenschaft hat sich das bislang systematisch angesehen.“ Deshalb will der Rostocker Wissenschaftler das Wissen der Übersetzer nutzen für seine Forschung. Er selbst übersetzte beispielsweise eine Reihe von Werken des spanischen Autors Max Aub ins Deutsche. 2003 erhielten er und Stefanie Gerhold für ihre gemeinsame Übersetzung von Aubs Roman „Bittere Mandeln“ den Übersetzerpreis der Spanischen Botschaft in Deutschland.
„In Deutschland, wo viel übersetzt wird, haben sich die Übersetzer in den letzten 30 Jahren sehr professionalisiert“, sagt Buschmann. Deshalb sind literarische Texte in Deutschland oft besser übersetzt als anderswo in der Welt.
Die literarischen Übersetzer haben bei ihrer täglichen Arbeit ständig mit komplexen Übersetzungsfragen zu tun. Darum liegt ein Arbeitsschwerpunkt von Buschmann auch in der Kooperation mit literarischen Übersetzern. „Nicht über sie, sondern mit ihnen forschen wir“, betont er immer wieder. Für ihn steht fest: „Der Reichtum der europäischen Kulturgeschichte besteht darin, dass unterschiedliche Sprachen unterschiedliches Denken ermöglichen. „Menschliche Sprache ist menschlich und folglich ein offenes System“, sagt der Fachmann. Das jedoch werde bei Übersetzungskritik oft nicht ausreichend bedacht, sondern immer nur auf das geschaut, was beim Übersetzen ein Problem sei. „Aber nicht nur zwischen Sprachen übersetzen wir, sondern auch innerhalb von Sprachen, und selbst dort sind Nicht- und Missverstehen alltäglich“, betont er.
Aktuell arbeitet der Rostocker Theologe Professor Martin Rösel an der Durchsicht der Bibelübersetzung für die evangelische Kirche mit. „Das wirft ganz neue Probleme auf“, argumentiert Buschmann. „Viele Bibelstellen sind den Menschen ja vertraut und persönlich wichtig. Da muss jede Änderung, auch wenn sie eigentlich philologisch oder theologisch zwingend scheint, sorgfältig bedacht werden.“ Übersetzen ist hier ein Jonglieren mit besonders vielen Bällen.
Im Herbst findet an der Uni Rostock zur Übersetzung der Luther-Bibel ein Workshop statt zum Thema: „Klar und gewaltiglich verdeutschen“. Im Vorfeld bietet die Universität allen an der Durchsicht der Luther-Bibel beteiligten Kollegen einen Übersetzer-Workshop an, der sich das Ziel gesetzt hat, die Kompetenzen zur kritischen Durchsicht der eigenen Übersetzungsarbeit zu stärken.
[Text: Wolfgang Thiel. Quelle: Informationsdienst Wissenschaft, 2013-04-29. Bild: Julia Tetzke/ITMZ Uni Rostock.]